Georg Friedrich Haas: "Bis 1974 gestattete ich mir noch, KZs mit Bombenangriffen aufzurechnen."

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Rund um das am Samstag beginnende Musikfestival Wien Modern, bei dem einige seiner Werke aufgeführt werden, erscheint von Georg Friedrich Haas ein Buch, in dem der österreichische Komponist einen respekteinflößenden Kraftakt der Offenheit absolviert. In Durch vergiftete Zeiten – Memoiren eines Nazibuben geht es natürlich auch um Haas’ Obsession, die Musik, die ihn mittlerweile zu einem international bedeutenden Komponisten hat heranreifen lassen.

Vor allem jedoch schildert der 1953 in Graz geborene Tonsetzer sein Leben und Überleben in einer unheilbar am Nationalsozialismus laborierenden Familie. Statt Einsicht in begangene und geduldete Verbrechen brodelte da ein Mix aus Unbeugsamkeit, Realitätsleugnung, Verdrängung und Verinnerlichung einer verdrehten Opferrolle.

So transferierte eine ganze Generation – dies eine Erkenntnis von Haas aufgrund seiner familiären Erfahrungen – ihre inhumanen ideologischen Mitbringsel aus den 1930er- und 1940er-Jahren in das Österreich nach 1945. Latente Schuldgefühle manifestierten sich, falls überhaupt vorhanden, in einer strengen Erziehung, mit der die Eltern ihre Ideologie an die Kinder weitereichten.

Vater protestiert

In klarer und regelrecht brennender Sprache entwirft Haas das Bild einer Generation, die den 8. Mai 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs, als Tag der Niederlage empfand. Haas meint vor allem auch seinen Vater, der die Politiker der Zweiten Republik als Kollaborateure "mit den sogenannten Siegermächten ansah" und sich aktiv in widersprüchliche private Situationen begab. 1976, als ein Stück von Georg Friedrich Haas beim Steirischen Herbst erklang, beteiligte sich "Vati" an einer rechtsradikalen Initiative, die das Festival abschaffen wollte.

"Ich will darüber berichten. Ich bin Zeuge, Zeuge des fortgesetzten Nationalsozialismus im Privatleben", spricht Haas und meint auch den Großvater, für den die FPÖ zu liberal gewesen sei. Fritz Haas, Architekt und während der NS-Zeit Rektor der technischen Hochschule in Wien, hatte eine jüdische Familie, die bei ihm über Nacht Schutz suchte, der Gestapo ausgeliefert. Auf den Baustellen des Großvaters seien viele Zwangsarbeiter (KZ-Insassen und Kriegsgefangene) gestorben, schildert Haas, und dies sei durchaus einkalkuliert gewesen.

Geschichte des Schmerzes

Vor allem aber ist Durch vergiftete Zeiten auch die Geschichte des eigenen Schmerzes, der eigenen Scham, an der familiären Weltanschauung lange festgehalten zu haben. Es klingt bisweilen wie ein Aufschrei der Verzweiflung: "Warum das alles? Ich habe mich oft gefragt, warum mir das Unglück zugestoßen ist, in eine Nazifamilie hineingeboren zu werden. Habe mit meinem Schicksal gehadert, das mir alles hat widerfahren lassen, die Isolation als Kleinkind, den mehrfachen Missbrauch, das Erleben von Gewaltanwendung und vor allem die Scham darüber, was meine Eltern und Großeltern getan haben", schreibt Haas, um deutlich zu schildern, welche Last ihm aufgebürdet wurde.

Etwa von Mama: "Georg, es ist deine Lebensaufgabe, der Welt zu beweisen, dass wir keine Verbrecher waren", hatte sie ihm aufgetragen.

Körperliche Züchtigung

Haas zählt bekenntnishaft seine "Bemühungen" auf: "Bis 1974 gestattete ich mir noch, KZs mit Bombenangriffen aufzurechnen. Ich zweifelte die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden an, glaubte, dass der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das Resultat einer aggressiven Verschwörung der Alliierten gegen das eigentlich friedliebende Naziregime war."

Da er selbst körperlich als "Schwächling", als "der Ungeschickte" galt, war er bemüht, durch stramme Befolgung der elterlichen Weltanschauung die ihm eingeredeten "Defizite" zu kompensieren. Sexuelle Regungen der Pubertät deutete er als Folge einer "psychisch bedingten Krankheit". Körperliche Züchtigung nahm er hingegen wohl als unausweichlich an. "Wer sein Kind liebt, schlägt es." Hundertmal habe ihm "Mutti diesen Satz gesagt".

Der bierselige Verein

Schließlich trat Haas auch dem Verein deutscher Studenten bei, den sein Vater nach 1945 neu mitgegründet hatte. Im Bierdunst begannen dann allerdings die ideologischen Säulen zu wanken; Haas hielt Reden über Toleranz in voller Wichs, es kam zum Eklat. Diese Buchpassagen sind besonders spannend, in ihnen deutet sich der Bruch des Weltbilds gleichsam zeitlupendeutlich an. Haas schildert diese bis ins Groteske reichenden Szenen so eindringlich wie die weiteren Stationen seiner Selbstbefreiung.

Seine Metamorphose? Zu ihr trugen entscheidend lange Diskussionen mit einem Freund bei, aber auch die Begegnung mit der Musik von John Cage und die von den Nazis zertrümmerte Familie seines Lehrers Iván Erőd und dessen Mutter.

Eine Mahnung

Haas’ Buch, das Historiker Oliver Rathkolb und STANDARD-Musikkritiker Daniel Ender bei Böhlau herausgegeben und mit historisch erhellenden Zusätzen versehen haben, wirkt wie ein Akt der seelischen Befreiung, wie das Bewältigen von Scham durch Offenlegung.

Es geht Haas aber um mehr. Es ist sein Buch auch eine Mahnung durch Erhellung dessen, was im Dunkel des österreichischen Alltags einsichtslos und unverarbeitet rumort und womöglich auf Erweckung wartet.

Für Haas persönlich scheint am Ende der Aufklärungsreise aber Versöhnliches zu stehen. "Ich habe Frieden geschlossen mit mir selbst. Die Vergangenheit liegt hinter mir." Etwas scheint aber in seiner Musik festgehalten: "Ja, die Dunkelheit, die Trauer und die Abgründe meiner Musik haben ihre Wurzel im Schmerz und der Scham über das, was die Eltern und Großeltern getan haben. Und im Schmerz und in der Scham über das, was ich als Heranwachsender gedacht und gesagt habe." (Ljubiša Tošic, 28.10.2022)