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"Jugend ist verschwendet an die Jungen!" So hat es der US-amerikanische Songwriter Sammy Cahn einmal treffend analysiert.

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Meister Kaan, fragte sein jüngster Schüler, warum werden wir

Menschen alt?

Was denkst du?, entgegnete der

Meister.

Um unser wahres Wesen zu

erkennen?, fragte der Schüler.

Gewiss, sagte Meister Kaan, doch

das sei nicht alles.

Um Schmerz zu lernen und Leid

zu überwinden?

Gewiss, doch es gebe noch mehr.

Um Eitelkeit abzulegen wie auch Gram?, fragte der Schüler.

Gewiss, gewiss, doch es gebe mehr.

Werden wir alt, um unsere Leben

jenseits des Laufs von Sonne und Mond zu ahnen?, fragte der Schüler.

Meister Kaan wiegte abermals

den Kopf.

Ach, Meister, bitte sage mir, was

darüber hinaus?, bat der Schüler.

Warum werden wir Menschen alt?

Um zu lächeln über uns, sagte

Meister Kaan.

(frei nach Tarimoko Son,

17. Jahrhundert, Mongolei)


Meine Großmutter lebte im Altersheim auf. Was sie einzig irritiere, sagte sie, seien die vielen alten Leute. Aus einer ähnlichen Beobachtung formulierte der 1870 geborene US-Börsenspekulant und Philanthrop Bernhard Baruch ein Axiom: "Ich werde nie ein alter Mann sein. Alt sind für mich immer die Leute, die gerade fünfzehn Jahre älter sind als ich."

Galgenhumor

Wobei die reifen Jahre auch ihre Vorzüge haben: "Ein großer Vorteil des Alters liegt darin", resümierte der große Charlie Chaplin, "dass man nicht länger die Dinge begehrt, die man sich früher aus Geldmangel nicht leisten konnte." Literaturnobelpreisträger André Gide berichtet von "gesundheitlichen Vorteilen" im Alter: "Zum Beispiel verschüttet man ziemlich viel von dem Alkohol, den man trinken möchte." Galgenhumor? Oh nein, Galgenhumor sieht so aus: "Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen" (US-Schauspieler Walter Matthau). Und so: "Wenn man genug Erfahrungen gesammelt hat, ist man zu alt, um sie auszunutzen" (der englische Schriftsteller William Somerset Maugham). Schließlich und an Prägnanz schwer zu überbieten die seufzende Analyse des US-Songwriters Sammy Cahn: "Jugend ist verschwendet an die Jungen."

Was aber heißt jung und was alt? Eine Biene lebt bestenfalls 150 Tage, ein Eichkätzchen zwölf Jahre, ein Grönlandhai hingegen 500, der Karibische Vasenschwamm 2.300 und der Antarktische Riesenschwamm bis zu 15.000 Jahre. Doch hat er ein erfüllteres Leben als die Eintagsfliege?

1.000 Jahre leben

Lässt sich in ein hohes Alter mehr Freude, Schönheit und Sinn packen als in ein niedriges? Auf die erlebte Strecke kommt's an, nicht auf den Kilometerstand, meinte ein befreundeter Biker. Ist das so? Erlebnis schlägt Lebensdauer? Intensität schlägt Extensität? Es gibt Mönche, die in ihrem Erwachsenenleben nicht viel mehr gemacht zu haben scheinen, als mit dem Rechen täglich aufs Neue einen Kiesweg zu ordnen, penibel Steinchen für Steinchen, nur um abends die Kollegen mittendreinlatschen zu sehen. Was für ein Sinnbild des Lebens! Tag für Tag Sinnhaftigkeit, Tag für Tag Vergeblichkeit.

Alt ist, wer Allegorien wie dieser etwas abgewinnen kann. Für alle anderen hat der Komiker Karl Dall eine andere Definition parat: "Alt wird man, wenn die Leute anfangen zu sagen, dass man jung aussieht." Überhaupt nicht spaßig meinen es Wissenschafter, wenn sie ankündigen, dass das Altwerden, wie wir es heute kennen, ein Auslaufmodell ist. Der erste Mensch, der 1.000 Jahre leben wird, sei schon geboren, behaupten manche Forscher. Bald, sagen sie, könnten sämtliche tödlichen Krankheiten ausgeschaltet, der Zellverfall gestoppt, Altersschäden repariert werden. Ein Mix aus idealer Ernährung, neuen Medikamenten und Stammzellenchirurgie soll die Fantasie vom ewigen Leben zur Realityshow werden lassen. Frankenstein Junior, forever young. Bei Mäusen funktioniert die Verjüngung mittels gentechnischen Eingriffs bereits.

Erfindungen der Evolution

Tatsächlich gibt es physikalisch keine unabdingbare Notwendigkeit, dass Lebewesen sterben müssen. Alter und Tod seien, so die gängigste Theorie, Erfindungen der Evolution, um den Fortschritt der Arten zu ermöglichen. Wenn es auch beim Menschen gelänge, die entscheidenden Gene umzuprogrammieren oder auszutauschen, könnte sich die Krönung der Schöpfung über das Alter erheben und gottgleich ewig leben. Wer das als himmelschreiend empfindet, dem sei biblische Lektüre empfohlen, konkret das 1. Buch Mose, Kapitel 3, Vers 22: "Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Dass er nunmehr nur nicht seine Hand ausstreckt und auch vom Baum des Lebens nimmt und ewiglich lebt!"

Hinter dem Baum der Erkenntnis (wir erinnern uns an die wissbegierige Eva und den Apfel) wächst also der Baum des ewigen Lebens. Und der ist mittlerweile offenbar zum Greifen nahe. Ob das den Himmel auf Erden verspricht? Oder die lebenslange Hölle? Jedenfalls hat die Spezies Mensch bekanntermaßen ein Händchen dafür, zuweilen danebenzugreifen.

Jahre an Bonuszeit

Sollte die Zellchirurgie nicht die gewünschten Jahre an Bonuszeit herausschinden können, steht ein anderer Wirtschaftszweig bereit: Hirnforscher und Softwareingenieure arbeiten ernsthaft daran, den Inhalt des Gehirns herunterzuladen. Der Körper mag trotz allen Boxenstopps und Gentech-Zaubertricks sterblich bleiben, der Geist aber würde dank Brain-Upload fortbestehen. Womit sich eine zweite Bibelstelle bewahrheitete: der Aufstieg der Seele in unbekannte Sphären, die Himmelfahrt des Geistes. Oder auf Neudeutsch: das Hochladen des Gehirns in die Cloud.

Erfahren der Vergänglichkeit

Wer sich spätestens jetzt an den Kopf greift und es vorzieht, schlicht und altmodisch irgendwann einmal das Zeitliche zu segnen, dem sei der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau an die Seite gestellt, der 1778 im Alter von 66 in Ermenonville bei Paris starb, davor aber meinte, die Jugend sei die Zeit, um Weisheit zu lernen, das Alter die Zeit, sie auszuüben.

Bislang ist die Erfahrung des Lebenssinns mit dem Erfahren der Vergänglichkeit verbunden; mit der Begrenztheit unserer Jahre, der Begrenztheit des Moments. Im Alter wird uns diese Endlichkeit so unerbittlich vor Augen geführt wie sonst kaum. Was dabei noch viel mehr schmerzt als das eigene Ende, ist die unmittelbare Erfahrung der Endlichkeit des Lebens an sich, der Unwiederbringlichkeit jedes Gefühls, jeder Begegnung und jedes einzelnen geliebten Menschen. Die damit einhergehende Prüfung ist immer beides: elementare Krise und elementare Chance.

Bei der Reduktion auf das Wesentliche werden oft neue Leidenschaften entdeckt.
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Verzweiflung oder Gelassenheit

Die Verdrängung des Altwerdens käme demnach einer Verdrängung des dritten Aktes im Dreiakter des Lebens gleich. Ermüdend ausgedehnt würde dagegen der zweite Akt. Jeder Hobbydramaturg weiß, zu welcher Absurdität das führte, zu welchem Bedeutungsverlust. "Wer den Sinn seines Alters nicht begreift", sagte Voltaire, "hat alles Unglück seines Alters."

Platon hatte 2.000 Jahre zuvor offenbar bereits begriffen und nach ihm auch Cicero, denn sie sprachen von der respektgebietenden Würde alter Menschen, Jakob Grimm vom Glück des Alterns, Ernst Bloch nannte das Alter die Zeit der Ernte. An dieser Stelle protestiert die Gegenfraktion, etwa der italienische Philosoph Norberto Bobbino: "Wer das Alter preist", schreibt er in Abwandlung des berühmten Satzes Erasmus’ von Rotterdam über den Krieg, "der hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen."

Eine Brücke zwischen den beiden Fraktionen schlägt Simone de Beauvoir. Sie sagt: "Alter heißt sich über sich selbst klar werden." Derlei Altersklarsicht kann charakterbedingt freilich zu beidem führen: Verzweiflung oder Gelassenheit. Zorn oder Heiterkeit. Wobei, wie man hört, mitunter das eine auf das andere folgt: ohne Fallen kein Sich-Erheben. Ohne Krise keine Läuterung. Dies sind zeitlose Wahrheiten, schon richtig, doch das Alter geht besonders freizügig um beim Verteilen von Fallstricken, von Hürden und schmerzlichen Einsichten – an denen sich heldenhaft reifen lässt oder kläglich scheitern.

Immer mehr Vergangenheit

Das Alter, eine Zeitenwende. Seine brutalste Charakterisierung, weil von mathematischer Unwiderlegbarkeit, lautet wohl so: immer mehr Vergangenheit, immer weniger Zukunft. Wie umgehen damit? Nicht wenige leben rückwärtsgewandt, schwärmen einer Vergangenheit nach, die es so nie gegeben hat, bereuen – frei nach William Somerset Maugham – all die schönen Sünden, die sie nicht begangen haben, oder quälen sich mit amüsanten Bonmots wie jenem von Herbert Henry Asquith, dem 1. Earl of Oxford and Asquith und ehemaligen britischen Premier, der fünf Jahre vor seinem Tod anmerkte: "Jugend wäre ein idealer Zustand, wenn er etwas später im Leben käme."

Andere versuchen stattdessen, den letzten Rest aus der Zitrone zu bekommen. Und torkeln von einer Endlifecrisis (die sie Midlifecrisis nennen) in die nächstjämmerliche, was ein zeitenüberdauerndes Phänomen zu sein scheint, stellte doch schon Kurt Tucholsky fest, dass komische Jugendliche viel seltener seien als komische Alte. Den dritten Weg, die Alternative zu Rückwärtsgewandtheit und hilflosem Vorwärtsjapsen, empfahlen bereits die alten Griechen: Lebe den Moment.

Nach der Phase der Reflexion und des Resümees, nach der Beantwortung von Fragen wie "Was war wichtig in meinem Leben? Was bleibt übrig? Was mag noch kommen?" – nach alldem ist Platz für: das Jetzt. Der unerbittlich geniale Kurt Tucholsky hat freilich auch dafür Häme übrig: "Wenn der Mensch fühlt, dass er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet auf die sauren Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr."

Reduzierte Lebensessenz und Tortur

Gewiss, das Sich-Einlassen auf das Jetzt wäre auch schon in jungen und mittleren Jahren nicht der dümmste Ansatz, aber da juckt eben noch wunderbar der Pelz, klingt ein "immer schneller, höher, weiter" verlockend und ein "morgen noch mehr" nach purem Leben. Dass im Alter ein "Weniger" bereichernd sein kann, erscheint da noch paradox. Viele alte Menschen aber schätzen genau dieses Reduzieren, dieses Weglassen, bis im besten Fall sämtliche Ablenkungen verschwunden sind, bis letztendlich nur noch der Kern offenliegt, das Da-Sein.

Das Alter ist oft eine Zumutung, ist oft eine unverschämte körperliche und geistige Tortur, doch bei der Reduktion auf die Lebensessenz sind die hohen Lebensjahre unschlagbar. Was Jüngere sich durch Räusche aller Art, durch Meditation, Achtsamkeitsseminare und Spiritualität anzueignen versuchen, bekommen die Alten ungebeten frei Haus geliefert. "Wenn der Körper", sagt mein Nachbar, der achtzigjährige Psychotherapeut Ekkart Schwaiger, "wenn der Körper nicht mehr dem eigenen Willen gehorcht und gewohnt scharfes Denken schwieriger wird, hilft das, den Ego-Intellekt zu bezwingen, der uns bisher gelenkt hat."

Komplett entwickeltes "Ich"

In der unmittelbaren Wahrnehmung des Hier und Jetzt nämlich, in das wir von unserem Alter eingeladen würden, verliere das Ego mehr und mehr an Bedeutung, da es vom Dort und Dann lebe. Vergangenheit und Zukunft loszulassen helfe auch gegen den im Alter so omnipräsenten emotionalen Schmerz. "Der reine Moment ist wie Morphium", sagt Ekkart Schwaiger, "er nimmt den Schmerz zwar nicht, aber er nimmt ihm die Bedeutung. Der Schmerz wird nicht weniger, aber er tut nicht mehr so weh."

Zudem ermögliche das Loslassen und bloße Da-Sein ein davor nicht gekanntes Wahrnehmen und damit Erleben und Erkennen. Ihn, erzählt mir der langjährige Psychotherapeut, während hinter uns die Sonne untergeht, habe das Alter in seiner persönlichen Entwicklung entscheidend vorangebracht.

Und dann skizziert der Achtzigjährige sein Bild vom Menschen: Ab dem Moment unserer Geburt, sagt er, werden wir verwickelt in unsere Lebensumstände, verwickelt im Einfluss der Eltern, später in jenem der Verwandten und Bekannten, der Lehrer und Gleichaltrigen, werden verwickelt in die Gesellschaft, ins Privat- und ins Berufsleben, verwickelt in Ängste, Anforderungen, Erwartungen, bis wir uns irgendwann fragen, wer wir eigentlich selbst sind unter all den Verwicklungen. Ab da beginnen wir uns zu entwickeln; Faden für Faden, in den wir verstrickt sind, entwickeln wir, um am Ende im besten Fall auf den Ursprung zu stoßen. Auf uns. Das komplett entwickelte Ich.

Auflösung der Gegensätze

Tucholsky, der nur 45 Jahre alt wurde, würde sich wohl auch über dieses Bild gekonnt lustig machen. Und selbst darüber, dass nach allem Hörensagen dreierlei übrig bleibe am Ende: das Bewusstsein von der Schönheit des Lebens; die Auflösung aller Gegensätze; und: die Liebe. Lächeln hingegen könnte der ernste, weichherzige Tucholsky gewiss über das Resümee des US-Dramatikers Wilson Mizer. Das Leben, sagte der, sei eine harte Angelegenheit, und die ersten hundert Jahre seien nun einmal die schwersten. (Thomas Sautner, 2.11.2022)