Dieses Mal kein Wälzer von Thomas Piketty.

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Er wird verschiedentlich bereits als der Karl Marx des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Der französische Sozialökonom Thomas Piketty hat zwei kapitale Werke über das Kapital veröffentlicht: Das Kapital im 21. Jahrhundert (auf Deutsch erschienen 2013, 816 Seiten) und Kapital und Ideologie (2020, 1312 Seiten). Danach folgten weitere Werke, in denen sich Piketty vorwiegend mit Ungleichheit und deren Überwindung befasst. DasKapital im 21. Jahrhundert wurde in 40 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 2,5 Millionen Mal verkauft.

Nun liegt auf Deutsch der jüngste Streich des "Rockstar-Ökonomen" vor, wie er ebenfalls genannt wird: Eine kurze Geschichte der Gleichheit hat Piketty nach eigenen Worten geschrieben, nachdem ihn Bekannte und Verwandte gefragt hätten, ob es nicht auch kürzer ginge. Mit ihren 264 Seiten ist die Kurze Geschichte der Gleichheit tatsächlich recht kompakt. Und sie wäre noch flüssiger zu lesen ohne die ermüdenden Fußnoten, die mitunter eine halbe Seite ausmachen.

Thomas Piketty, "Eine kurze Geschichte der Gleichheit". € 24,70 / 264 Seiten. C. H. Beck, München 2022.
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Zügellose Ausbeutung

Piketty konstatiert, zumindest seit Ende des 18. Jahrhunderts, eine historische Bewegung hin zu mehr Gleichheit. Zwischen 1780 und 2020 habe es in den meisten Regionen und Gesellschaften der Erde Entwicklungen gegeben, die zu mehr Status-, Eigentums-, Einkommens-, Geschlechter- und "Rassen"-Gleichheit geführt haben. Das große Aber: Die Entwicklung des westlichen Kapitalismus hat sich auf die internationale Arbeitsteilung und die zügellose Ausbeutung globaler und menschlicher Ressourcen gestützt.

Die heutige Wohlstandsverteilung zwischen reichen und armen Ländern ist zutiefst vom Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus geprägt. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem, das auf unkontrollierter Zirkulation von Kapital, Gütern und Dienstleistungen ohne soziale und ökologische Vorgaben beruht, kommt einem Neokolonialismus zugunsten der Reichen gleich. Wiedergutmachende und universalistische Gerechtigkeit seien komplementär und könnten nur in wechselseitiger Ergänzung vorangetrieben werden. Und ohne entschlossene Maßnahmen zum Abbau sozioökonomischer Ungleichheiten könne es keine Lösung der Umwelt- und Klimakrise geben.

Steuerprogression als Erfolg

Für Piketty war die Einführung der Steuerprogression, also die prozentuell höhere Besteuerung höherer Einkommen, ein enormer Erfolg. Die quasikonfiskatorischen Steuern hätten nicht nur die Vermögens- und Einkommensunterschiede verringert, sondern zugleich die Situation der Mittel- wie der Unterschichten verbessert, den Sozialstaat gestärkt und sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozialleistung angekurbelt.

Die Behauptung, dass höhere Spitzensteuersätze die Wirtschaft bremsten, widerlegt der Autor mit Zahlen: In den USA stieg das Nationaleinkommen pro Einwohner nach Einführung der Einkommensteuer 1910 von davor 1,8 Prozent jährlich auf 2,1 Prozent und von 1950 bis 1990 um 2,2 Prozent, bei einem Spitzensteuersatz von durchschnittlich 72 Prozent. Nachdem der Spitzensteuersatz halbiert worden war, mit dem erklärten Ziel, das Wachstum anzukurbeln, halbierte sich dieses allerdings auf 1,1 Prozent. Piketty plädiert folglich für eine wieder stärkere Steuerprogression. Diese würde den Sozialstaat stärken und auch das Verhältnis zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen verringern.

"Erbe für alle"

Zugleich schlägt Piketty ein "Erbe für alle" vor. Dieses Minimalerbe für die gesamte Bevölkerung könnte 60 Prozent des Durchschnittsvermögens pro Erwachsenem betragen und durch eine progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer finanziert werden. Der Sozial- und Umweltstaat wiederum sei durch ein integriertes System aus progressiver Einkommensteuer einschließlich Sozialabgaben und einer "CO2-Karte" zu finanzieren.

Radikaler Umbau

Piketty ist überzeugt, dass sich die Probleme der Welt, allen voran die Klimakrise, nur durch einen einigermaßen radikalen Umbau des westlichen Wirtschaftssystems bewältigen lassen. Mit dem überalterten hyperkapitalistischen Modell werde es nicht klappen, auch vis-à-vis einem autoritären chinesischen Sozialismus, der auf eine digitale Diktatur hinauslaufe. Die Alternative liegt für Piketty in einem demokratischen, partizipativen und föderalen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus, "der im Grunde nur die logische Fortsetzung jener Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden langfristigen Tendenzen zu mehr Gleichheit ist".

Dass diese Veränderungen durch Einstimmigkeit zwischen den betroffenen Ländern oder sozialen Gruppen zu erreichen seien, sei mit Blick auf die Geschichte eine Illusion. Vor allem aber verlangten sie nach aktiven Bürgern. An sie, die durch ihr eigenes Handeln und ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess die Veränderungen beeinflussen können, wendet sich der Autor in erster Linie mit seinem Buch. Ein hehrer Anspruch – gemessen an der Größe der Aufgabe, dem menschlichen Beharrungsvermögen und den zu erwartenden Widerständen.(Josef Kirchengast, 28.10.2022)