Spaß beim Dreh: Claudia und Rudi mit Domina Roxanne in ihrer Mitte und umgeben von willigen Sklaven.

Foto: Edition Privat

Clemens Marschall als Chronisten der Wiener Unterwelt zu bezeichnen wäre vielleicht ein Alzerl zu viel des Guten, aber "Chronist von verschwindenden Parallelgesellschaften in Wien und anderswo" klingt halt etwas umständlich, und außerdem trifft es das auch nicht ganz. Versuchen wir’s anders: Der Mann mag alles, was nicht hip, nicht gentrifiziert, nicht geschönt ist. Sein Interesse gilt dem Obskuren und Nebulösen, dem authentisch Grindigen und eingemacht Ehrlichen – vor allem gilt es an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen und ihren Schicksalen.

Bereits als Jugendlicher bekam der gebürtige Oberösterreicher Einblick ins sogenannte Milieu. In den Ferien verdiente er sich in Wien Geld dazu, indem er Fenster beim Rinterzelt wechselte, einmal arbeitete bei den 48ern als Straßenkehrer. "Und weil wir so schön vor den Lokalen zusammengekehrt haben, haben wir halt auch gratis Saftl gekriegt."

Dass viele dieser alten Branntweiner und Beisln, von ihrem Publikum als "Hütten" bezeichnete Etablissements, wegsterben, ist Marschall dann 2012 so richtig aufgefallen. Zusammen mit dem Fotografen Klaus Pichler begann er, sie zu dokumentieren; keine ganz einfache Angelegenheit, wenn man dort nicht Stammgast ist. Vertrauen muss erst über einen langen Zeitraum ertrunken und erredet werden, bis man selbst zur Familie gehört.

Saufen als Care-Arbeit

2016 erschien dann das Buch Golden Days Before They End, das diese Lokale, vielmehr aber noch die Geschichten und Rituale ihrer Besitzer und Besucher dokumentiert. Es zeigt Orte, an denen gemeinsames Trinken auch so etwas wie Care-Arbeit ist. "In dem Buch wird das nicht romantisiert, aber es geht schon darum, interne Netzwerke von gestrandeten Leuten zu zeigen, die einander unterstützen. Wenn solche Lokale wegbrechen, saufen die Leute ja dadurch nicht weniger, es werden nur Communitys zerstört", sagt Marschall.

Bei der Recherche zu Golden Days Before They End lernte er dann auch Claudia und Rudi kennen, die das Lokal Bierschnaberl betrieben. "Schon beim ersten oder zweiten Mal, als ich reingegangen bin, haben sie mir erzählt, dass sie früher Schweinderlfilme gemacht haben."

Die Karten lagen also gleich auf dem Tisch. Marschalls Begeisterung über diese Info hielt sich in Grenzen, bis er später und über ein ganz anderes Eck einmal einen zu Gesicht bekam. Ein Freund von Marschall, der sich ebenso aufs Sammeln von bizarren Raritäten versteht, zeigte ihm etwas aus Claudia und Rudis Œuvre – und zwar nicht irgendetwas.

Einblicke in die Szene.
Foto: Edition Privat

Denn Claudia und Rudi, die von den 1990ern bis 2010 mit ihrer Edition Privat zu den erfolgreichsten Pornoproduzenten Österreichs gehörten, taten neben dem Drehen von recht konventionellen Sexfilmen auch etwas eher Ungewöhnliches. In ihrer Reihe Claudias und Rudis Wien intim führen sie – Rudi hinter der Kamera und Claudia als Interviewerin – Gespräche mit den Darstellern, geben Einblick in die Swingerklubs, in die Szene und den "Lifestyle". Claudia und Rudi interessierte einfach, was Menschen dazu treibt, sich auspeitschen zu lassen oder sich Äpfel in den Popsch zu stopfen. Marschall war entflammt, das interessierte ihn nämlich auch. "Das war, wo die Spira nicht hingekommen ist."

Kistenweise Material

Die Nummer von Rudi hatte er noch, also rief er ihn an und fragte, ob es denn noch Material aus der feuchtfröhlichen Hochphase der Edition Privat gebe. "Kistenweise", sagte Rudi. Und so verbrachte Marschall viele Abende während der Corona-Zeit in Rudis und Claudias Häuschen am Stadtrand und wühlte sich durch ein Archiv, bei dem Hinschauen nicht immer nur leicht fällt. Er tat, was Claudia und Rudi getan hatten: sich die Anekdoten zu den jeweiligen Fotos, Plakaten und anderen Erinnerungsstücken anhören und sie dokumentieren. Aber nicht in Form eines Filmchens, sondern als Buch: Edition Privat – Claudias und Rudis Wien intim. Und dieses kürzlich erschienene Buch, das aus einem von Marschall montierten, langen Interview mit Claudia und Rudi und viel Bildmaterial besteht, hat es in sich.

Es beginnt mehr oder weniger dort, wo sich Claudia und Rudi, die mittlerweile seit 20 Jahren verheiratet sind, kennengelernt haben, natürlich bei einem Dreh. Sie als Darstellerin vor der Kamera, er hinter der Kamera. Zum Foto vom ersten Dreh, das auch das Cover des Buchs ziert, sagt Rudi: "Was war da los bei unserem ersten Dreh? Der ist ja nicht mal ausgeartet. Und was hast du da in der Fut drinnen?" Und Claudia: "Irgendein Obst wahrscheinlich, zeig her."

Buch: Clemens Marschall, "Edition Privat – Claudias und Rudis Wien intim". € 42,– / 224 Seiten. Text/Rahmen, Wien 2022

Insofern kann man sich vorstellen, dass auch alles weitere, was wir in diesem Buch über Charaktere wie die Domina Roxanne, die Analgeburten moderierte, hochrangige Politiker, die gern wichsend in Särgen lagen, und Menschen wie Urindl, Mumienficker, Nazi-Kurtl und den Godfather of Gacki erfahren, absolut ungefiltert daherkommt. Claudia und Rudi erzählen frei von der Leber weg und schaffen ein unterhaltsames und faszinierendes Dokument Zeit- und Szenengeschichte, das die Grenzen des guten Geschmacks permanent überschreitet – und oft auch moralische. War es Marschall selbst manchmal zu viel? "Ich bin selten schockiert, und ich urteile nicht über existenzielle Entwürfe anderer Leute. Aber ja, bei den Geschichten von Claudia und Rudis Hausschweindl, einem Sklaven, der 13 Jahre lang 24 Stunden am Tag für sie verfügbar war, hab ich mich schon gefragt: ‚Darf man das?‘"

Marschall hätte mit dem Material, das er in stundenlangen Gesprächen mit Claudia und Rudi gesammelt hat, auch ein ganz anderes Buch machen können, eines, bei dem Grauslichkeit auf Grauslichkeit folgt, eines, das seine Protagonisten vorführt, ausschlachtet oder auf sie herabschaut. Vielleicht wäre das sogar einfacher gewesen, als eine Mischung zu finden, die komplexen Charakteren wie Rudi und Claudia gerecht wird.

Fliegen und dreschen

Da ist Rudi, der deutlich moderatere der beiden, der jahrelang bei einer Fluggesellschaft gearbeitet hat und für die Pornodrehs Seile, die auf dem Flughafen nicht gebraucht wurden, für Bondage-Szenen mit nach Hause brachte, der eigentlich viel lieber übers Fliegen, seine große Leidenschaft, als übers Pudern redet und am liebsten bei einem Flugzeugabsturz oder beim Geschlechtsverkehr abtreten würde. Und da ist Claudia, eine Frau, die ihre sadistischen Neigungen unverfroren auslebt und – abgesehen von Rudi – Männer vor allem verdrischt, sich aber gleichzeitig liebevoll wie eine Mama um ihr ganzes Umfeld kümmert, Leuten, die auf Ämtern Probleme haben, mit dem Ausfüllen von Formularen hilft und einfach da ist, wenn man sie braucht.

Und so ist Edition Privat – Claudias und Rudis Wien intim auch das Dokument einer großen Liebesgeschichte, nicht nur der zwischen Claudia und Rudi. Es geht um die Liebe für eine und in einer Szene, die nicht nur durch ihre sexuellen Vorlieben verbunden war, sondern in der Freundschaft, Respekt und Zusammenhalt und das, was wir heute "consent" nennen würden, großgeschrieben wurden.

TEXTRAHMEN

Das heißt allerdings nicht, dass Edition Privat – Claudias und Rudis Wien intim einfach zu verdauen ist; manche "Anekdoten" brennen sich beim Lesen doch eher unangenehm ein. Zum Beispiel: "Das Zwergenwerfen werde ich nie vergessen, das hat mich irrsinnig inspiriert. Kleinwüchsige Frauen werden mit einem Helm statt der Kugel auf einer Bowlingbahn eingesetzt. Und die, die am meisten Pins wegräumt, wird beglückt."

"Haben Claudia und Rudi den fertigen Textentwurf denn gegengelesen und so abgenommen?", frage ich Clemens Marschall. "Jaja, natürlich. Aber sie wollten keine Änderungen. Ah doch, eine Änderung. Ich habe über einen Flug mit der Concorde geschrieben, bei dem es Sekt zu trinken gab. Rudi hat dann angerufen und gesagt, dass ich das ändern muss. Es war Champagner."(Amira Ben Saoud, 29.10.2022)