Ihren Plattenspieler hat sie noch nie benutzt, und an ihrem Esstisch hat noch nie jemand gegessen; in ihrer Küche stehen Blechdosen, von denen sie nicht weiß, wofür sie gemacht sind – immerhin sind sie "so cool", ebenso wie die Vintage-Gläser in ihrer Bar. "Cute!" Wer Emma Chamberlain daheim besucht, bekommt Einblicke in ein perfekt gestyltes Generation-Z-Zuhause, das aussieht, als wäre es durch und durch von Instagram-Anzeigen inspiriert – so zumindest beschreibt es der Guardian.

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Chamberlain ist 21 Jahre alt und mit Youtube-Videos berühmt geworden. Im September hat sie dem Magazin Architectural Digest eine Videoführung durch ihr Haus gegeben, die auf Youtube über sechs Millionen Mal aufgerufen wurde. Chamberlains Haus, schreibt der Guardian weiter, wirke unpersönlich, fühle sich eher wie ein Ausstellungsraum als wie ein Zuhause an und sei letztlich ein Ort mit großem Wiedererkennungswert und einem Haufen begehrenswerter Dinge.

Opfer der Trends

Tja, das hat die junge Frau – die schon zu Beginn der Tour betont, ihr ganzes Leben lang auf den Besuch des Magazins gewartet zu haben – sich wohl anders vorgestellt. Würde man sie fragen, wäre sie wohl davon überzeugt, ihren ganz persönlichen Stil in ihrem Zuhause verwirklicht zu haben. Tatsächlich scheint sie aber nur ein Opfer aktueller Trends, die es bei Möbeln ebenso gibt wie in der Mode.

Das hat auch schon Neil Boorman festgestellt, Autor des Buches Goodbye, Logo: Wie ich lernte, ohne Marken zu leben. Früher, schreibt er, habe er gedacht, durch die Kombination aus Dingen, die er kaufe, sei er in den Augen anderer einzigartig. Bis er jemanden traf, der fast die gleichen Dinge besaß, und ihn die Erkenntnis traf, dass er nur seinem demografischen Stereotyp entsprach – ein wandelndes Klischee, wie er schreibt. Das Problem: Viele Dinge, die wir besitzen, stammen aus Massenproduktion, und Individualität könne man in der Fabrik nicht kaufen.

Das typischeWohnzimmer

So enden wir alle immer wieder mit den annähernd gleichen Möbeln im Wohnzimmer. Das hat vor einigen Jahren auch schon die Werbeagentur Jung von Matt festgestellt. Sie hat 2004 das typisch deutsche Wohnzimmer streng nach statistischen Daten aus der Konsumforschung eingerichtet, um sich besser in die Durchschnittsfamilie einfühlen zu können. Eine Schrankwand in Buche-Furnier stand darin ebenso wie eine aprikosenfarbene Sitzgruppe und ein geschwungener Glastisch.

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Als das Projekt einst in einer deutschen Radiosendung vorgestellt wurde, häuften sich die Anrufe von Zuhörerinnen und Zuhörern, die ihr eigenes Wohnzimmer wiedererkannten und verärgert waren – immerhin, so dachten sie, sei ihr Einrichtungsstil ganz einzigartig.

Was wir gerne wären

Ein Grund für diese falsche Wahrnehmung könnte sein, dass wir nicht kaufen, was wir brauchen, sondern das, was wir gerne wären – das schreibt auch Kathrin Hartmann in ihrem Buch Ende der Märchenstunde über unser Konsumverhalten. Mit unserer Einrichtung wollen wir demnach etwas repräsentieren und Besucherinnen und Besuchern unseren eigenen Geschmack und Lebensstil vermitteln.

Hartmann schreibt: "Die Produkte unterscheiden sich darin, welche Geschichten sie erzählen, welche Träume und Sehnsüchte sie spiegeln, zu welchem Lebensstil sie passen, welches Erlebnis sie anbieten, welche Gefühle sich mit ihnen verbinden lassen." Zu Hause geht es also bei den meisten nicht nur um uns selbst und unsere Grundbedürfnisse wie Funktionalität oder Gemütlichkeit, sondern darum, was andere denken könnten – etwa wenn sie zu Besuch kommen oder wir ein Foto aus dem eigenen Zuhause online posten.

Die Frage, was einem selbst wirklich und ehrlich gefällt, losgelöst von aktuellen Trends, stellen sich die wenigsten, sagt der Innenarchitekt Wolfgang Stempfer. Und er weiß: Selbst wer tatsächlich in sich gehe und den eigenen Geschmack ergründe, für den sei es auf einem von Trends getriebenen Markt fast unmöglich, Produkte zu finden, die aktuell nicht der Mode entsprächen.

Die Algorithmen bestimmen

Und was ist derzeit angesagt? Beispielsweise der Mid-Century-Stil aus den 1950er- bis 1970er-Jahren, an dem sich auch Emma Chamberlain orientiert hat – auch wenn kein einziges Möbelstück tatsächlich aus der Zeit Mitte des letzten Jahrhunderts stammt. Aber woher kommt dieser Trend, der schon seit einigen Jahren anhält? Laut Stempfer vermitteln Möbel aus dieser Zeit auch das damalige Lebensgefühl, also eine gewisse Aufbruchsstimmung und einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Gemacht werden solche Trends laut Stempfer auf den großen Designmessen und heute natürlich in den sozialen Medien. Feeds, zusammengestellt von Algorithmen, bestimmen unseren Konsum, unsere Interessen und letztlich auch unseren Einrichtungsstil.

Aber auch unsere Eltern und Großeltern hatten schon eine Wunschvorstellung vom Zuhause – bevor es Instagram gab. Früher, weiß Stempfer, hat die klassische Werbung vorgegeben, was angesagt ist; etwa Prospekte von Möbelhäusern, Versandhauskataloge und TV-Spots. Auch damals haben sich Trends schon gewandelt, allerdings weitaus langsamer als heute. Auch die Agentur Jung von Matt hat das typisch deutsche Wohnzimmer immer wieder überarbeitet und angepasst. Mittlerweile wurde es von einem digitalen Tool abgelöst, das es möglich macht, sich in die Online-Bubbles aller möglichen Zielgruppen hineinzuversetzen.

Unmenge an Möglichkeiten

Aber wie würde das typische Wohnzimmer heute aussehen? Natürlich gibt es immer noch Möbel, die besonders begehrt sind und sich gut verkaufen. Die Breite an Stilen und Vorlieben sei heute allerdings größer als früher, und so "wird es immer schwieriger, das typisch deutsche oder auch das typisch österreichische Wohnzimmer auszumachen", sagt Stempfer. Gerade diese Unmenge an Waren und Möglichkeiten sei aber auch der Grund dafür, dass viele Menschen beim Einrichten überfordert seien.

Und Stempfer attestiert den meisten Menschen eine gewisse "Abwesenheit von Mut und tatsächlichem Individualismus". Eine gute Frage, die man sich beim Einrichten stellen könnte, sei etwa: Wie sieht unser Alltag aus, und was würde ihn erleichtern? Beistelltische in Form von Maiskolben, wie Emma Chamberlain sie hat, gehören wohl nicht dazu. Aber wer weiß. (Bernadette Redl, 8.11.2022)