Bob Dylan würdigt 66 ausgewählte Lieder als Beispiele für besonders gelungene und hörenswerte Exemplare ihrer Gattung. Das wirft Fragen auf.

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Am Beginn des Buches sieht man Elvis im Plattenladen. Jung ist er, seine zweite LP steht im Regal neben Alben von Harry Belafonte, Little Richard und anderen. So wie er durch die Regale schlendern Schöngeister durch Ausstellungen. Das Foto besitzt eine unschuldige Kraft.

Es erinnert an den Anfang dessen, was man heute unter dem Begriff Pop über einen Kamm schert. Ähnliche Abbildungen folgen: Frauen in Schallplattenpresswerken, die in zart gewobenen Handschuhen Alben in die Cover stecken. Die Bilder verbreiten Atmosphäre. Man sieht Kundschaft im Plattenladen, Vorfreude liegt in der Luft, die Aufregung vor jenem Moment, in dem sich die Nadel des Plattenspielers in die Rille senkt und ein Song beginnt. Der stößt die Tür zu fremden Welten auf, zu Geschichten und Schicksalen.

65 solcher Songs plus ein Gedicht hat Bob Dylan in über einem Jahrzehnt Arbeit ausgesucht und ihre Wirkung auf ihn beschrieben. Darunter befinden sich Lieder von Perry Como, The Clash, Elvis und Elvis Costello, Nina Simone, Bobby Bare und anderen. Gebunden zwischen zwei Buchdeckel ergibt das eine Sammlung, die Dylan Die Philosophie des modernen Songs nennt und mit der er eine kleine, subjektive Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschaffen hat.

Mosaik und Fragment

Die in Aussicht gestellte "Philosophie des modernen Songs" bekommt man allerdings nicht auf dem Teller serviert. Oft liegen die Erkenntnisse zwischen den Zeilen und offenbaren dort Dylans Denkweise, seine Zugänge und Empfänglichkeit für ein Lied.

Das Buch ergibt ein Mosaik ohne den Anspruch, am Ende ein vollständiges Bild zu erschaffen. Doch das entstehende Fragment ist erstaunlich. Über den Umweg fremder Songs offenbart sich der bedeutendste lebende Singer-Songwriter, der erste, der für sein Handwerk den Literaturnobelpreis erhalten hat. Der heute 81-Jährige erlaubt Einblick in seine Urteilskriterien, in seine Sichtweisen. Oft sind es Erinnerungen, die dem Faktischen verpflichtet sind, aber zugleich seine Fantasie beflügelt haben.

Die von Dylan ausgewählten und beschriebenen Songs sind Vorlagen für Roadmovies, Familiendramen oder Liebesgeschichten. Sie erzählen vom Weggehen und Ankommen, vom Unrecht und von der Hoffnung, von der Enttäuschung und der Kälte. Er beschreibt, was ein Lied zu bewegen vermag, wenn man sich auf so einen Dreiminüter tiefer einlässt, als dazu bloß mit dem Fuß zu wippen oder den Refrain mitzusummen. Wobei Dylan das nicht kleinreden würde.

Auf welche Weise sich so ein Kunstwerk Einlass in den Empfänger verschafft, ist genauso mirakulös wie das Warum. Dylan erklärt und deutet seine Auswahl, ohne die Magie des jeweiligen Lieds aufzuheben: "Wie jedes andere Kunstwerk streben auch sie nicht danach, verstanden zu werden. Kunst kann man schätzen oder interpretieren, aber nur ganz selten gibt es dabei etwas zu verstehen. Ob es um Dogs Playing Poker oder das Lächeln der Mona Lisa geht, die Bilder zu verstehen bringt einen nicht weiter." Das könnte in jedem der 66 Texte stehen, konkret ist es jenem über Nina Simones Don’t Let Me Be Misunderstood entnommen.

Die 75 Kinder des Screamin’ Jay Hawkins

Oft sind es universelle Wahrheiten, die ihn für ein Lied begeistern, genauso oft dessen Uneindeutigkeit. Dylan zeigt sich stets wendig und fantasievoll, ist Fan, Chronist und Kritiker zugleich, vermutet hinter scheinbar eindeutigen Storys immer noch ein ganzes Universum an weiteren Themen – wie in Johnny Cashs pädagogisch wertvollem Don’t Take Your Guns to Town aus dem Jahr 1958.

Bei manchen der untersuchten Titel steuert er den historischen Background einer Komposition bei, wenn sie ihm bedeutend erscheint, wie bei Strangers in the Night von Frank Sinatra. Das ergibt wissenswerte Exkurse mit Mehrwert und Tiefe, wobei er sich auch vermeintlich Banalem widmet, wenn er einen Song des Soulsängers Johnnie Taylor aufs Podest hebt. Cheaper to Keep Her führt ihn vom lukrativen Geschäft der Scheidungsanwälte in den USA über den Scheich von Arabien zum Sänger Screamin’ Jay Hawkins, der ungefähr 75 Kinder mit fast ebenso vielen Frauen in die Welt gesetzt haben soll – laut Dylans Recherche.

Ewiger Antrieb

Die Lektüre in ihrer häppchenhaften Aufbereitung mit tollen Illustrationen ist kurzweilig, oft so ephemer wie ein dreiminütiges Lied auf einer staubigen Single. Am Ende ist man ein bisschen schlauer als zu Beginn, aber nicht sehr. Dylan, das zeigt sich einmal mehr, wirft letztlich doch immer Fragen auf. Selbst wenn er dazu ansetzt, Antworten zu liefern. Die Magie muss schließlich erhalten bleiben. (Karl Fluch, 3.11.2022)