Trauerbild für Lisa-Maria Kellermayr in der Kirche von Buchkirchen, dem Ort, wo sie aufgewachsen ist.

Foto: Oliver Das Gupta

Am Abend, bevor sich Lisa-Maria Kellermayr das Leben nahm, suchte sie noch einmal den Kontakt zum STANDARD. "Egal wie spät es wird, rufen S’ mich heute bitte noch an", sagte sie in einer Sprachnachricht, die sie am 28. Juli um 21.32 Uhr abschickte. Seit November 2021, nachdem sie das aggressive Verhalten von Impfgegnern vor dem Klinikum Wels öffentlich kritisiert hatte, wurde Kellermayr mit Hassnachrichten überschüttet.

Die meisten perlten an der Oberösterreicherin ab. Aber eine besonders üble Mail machte ihr immense Angst – eine Angst, aus der sie keinen Ausweg mehr finden sollte, wie Freunde später sagten: Ein "Claas" kündigte an, dass er sie und ihr Personal in der Praxis massakrieren werde. Er formulierte plastisch. Kellermayr antwortete ihm: Sie möchte "die gesellschaftliche Spaltung" nicht weiter zulassen, schrieb die Ärztin, "wir können auf einer SACH-Ebene gerne weiter diskutieren".

"Claas" reagierte nicht, die Behörden ermittelten ergebnislos. Kellermayr engagierte einen Sicherheitsmann. Die ersten Wochen bezahlte ihn die Ärztekammer, auf weiteren Kosten blieb die Ärztin sitzen. Sie versorgte weiter kranke Patienten – Corona grassierte, ihre Ordination in Seewalchen am Attersee war voll.

Im Mai erneuerte "Claas" die Mordankündigung. "Ich habe kein Problem damit, längere Zeit abzuwarten, bis ich zuschlage", schrieb er. Behörden und Ärztekammer forderten Kellermayr auf, sich mit Äußerungen zurückzuhalten. Die Ärztin wollte sich keinen "Maulkorb" verpassen lassen, sagte sie, ihre Meinungsfreiheit sei doch ebenso schützenswert wie die der Impfgegner. Polizeischutz erhielt Kellermayr keinen, anders als bedrohte Politiker. "Double Standards" nannte sie das, "aber über eine bedrohte Landärztin redet man verächtlich".

"Kämpfernatur"

Ihr Umfeld nannte die Medizinerin, eine "Kämpfernatur". Doch Ende Juni schloss sie ihre Ordination. "Bis heute habe ich mehr als 100.000 Euro in die Sicherheit des Ordinationsbetriebs gesteckt", schrieb sie im Internet, "um garantieren zu können, dass sich niemand, der hier Hilfe sucht, dadurch in Gefahr begeben muss." Wenig später erklärte der Sprecher der Landespolizeidirektion Oberösterreich – auch dem STANDARD –, die Ärztin wolle über die Medien das "eigene Fortkommen" fördern.

Inzwischen wurde der Fall Kellermayr auch außerhalb Österreichs wahrgenommen. Die deutsche "Hacktivistin" Ornella Al-Lami fand binnen Stunden heraus, was den oberösterreichischen Behörden nicht gelungen war: dass "Claas" den Namen eines anderen Mannes missbrauchte, um seine Identität zu verschleiern. Die Spur führt ins rechtsextreme Milieu. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen zwei Personen: einen vorbestraften 37-Jährigen und einen weiteren Mann. Ein weiteres Verfahren läuft gegen einen Starnberger, der Kellermayr drohte, sie vor ein "Volkstribunal" zu bringen. Der Bayer teilt Verschwörungsmythen, er ist wegen Delikten wie Betrug, Körperverletzung und Bandendiebstahl polizeibekannt.

Das deutsche Bundeskriminalamt nennt "Impfgegner oder Corona-Leugner" mittlerweile ein "relevantes Risiko im Zusammenhang mit Angriffen auf Impfzentren oder Arztpraxen" und schrieb in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung, dass der Fall "eine Zäsur" darstelle und "in die Gesamtbewertung der Gefährdungslage miteinbezogen" werde. DER STANDARD berichtete.

So weit scheinen Politik und Sicherheitsbehörden in Österreich noch nicht zu sein. Allerdings gab es kurz vor Kellermayrs Tod einen ernsthaften Versuch, der Causa eine positive Wendung zu geben. Im Juli schaltete sich mit Omar Haijawi-Pirchner der Chef der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) ein. Sollte die Ordination wieder eröffnen, würde sie Polizeischutz erhalten, hieß es. Doch die ersehnte Hilfe kam zu spät. Kellermayr hielt sich nicht mehr für arbeitsfähig. Sie hoffte auf eine Auszeit auf einer einsamen Berghütte, eine Therapie in einer Klinik in Bayern, in die sie ihren geliebten Hund hätte mitnehmen dürfen. Und sie hoffte weiterzuleben, sprach von Kindern und Enkeln. Doch die Hoffnung schwand.

Zahlungsunfähig

Ihrem Freundeskreis hatte Kellermayr erklärt, dass sie im Oktober zahlungsunfähig sei, wenn kein Wunder geschehe. Für den Umbau der Ordination hatte sie – wie in der Branche üblich – Kredite aufgenommen, die normalerweise nach einigen Jahren getilgt worden wären. Doch die Praxis blieb dicht. Wenn sie die Ordination verlöre, dann wäre sie ohne jeden Schutz, sagte Kellermayr in dem Telefonat wenige Stunden vor ihrem Tod. Bedroht fühlte sie sich bis zuletzt. Freunde bereiteten einen Unterstützerverein vor, sagt sie im letzten Gespräch, man wolle Geld sammeln. Was sie nicht erwähnte: Eine Bank hatte ihr kurz zuvor den Überziehungsrahmen gestrichen. Gegen Mitternacht wurde ein Telefonat für den nächsten Tag vereinbart. "Melden Sie sich, wann es Ihnen passt", sagte sie und legte auf. Wenige Stunden später war Lisa-Maria Kellermayr tot. (Oliver Das Gupta, 3.11.2022)