Ein fast zu großes Thema hat sich Zuckermann gewählt: mehr als eine Generation überwölbend, einen Weltkrieg, die Shoah.

Foto: Marion Vierling

Die Vergangenheit ist unvorhersehbar. Tot ist sie nicht, eher untot." Mit diesen Sätzen beginnt Marcia Zuckermanns Zweitling Schlamassel!. 2016 hatte die Berlinerin, Vater Jude und Holocaust-Überlebender, Mutter zur NS-Zeit kommunistische Widerstandskämpferin, mit 69 Jahren als Autorin debütiert, witzig, dabei tieftraurig grundiert. Diese Eigenschaften charakterisieren auch ihren neuen Roman. Anfang der 1960er-Jahre ist John Segal um die 40. Und will eine "mizwe", eine religiöse Pflicht, erfüllen, die das Judentum stellt. Er will herausfinden, was mit seiner Mutter und was mit seinem Vater geschehen ist.

Seine Mutter hat er seit dem Jahr 1939 nicht mehr gesehen und seither nichts mehr von ihr gehört. Von seinem Vater ist ihm, der als Johannes Segall geboren wurde und in der Stadt Schwetz an der preußisch-polnischen Grenze aufwuchs, die, 1918 zu Polen gekommen, seither Swiecin hieß, zu Beginn der 1930er-Jahre nach Berlin zog, dort ein Gymnasium besuchte und als Bub in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 mit einem der letzten jüdischen Kindertransporte nach Großbritannien gelangte, in Leeds bei einer Fleischhauerfamilie unterkam, maturierte, in den USA studierte und Karriere gemacht hat, nur ein Foto geblieben. Dieses war ihm noch in Berlin von einem Anonymus zugespielt worden. Es zeigt seinen gestrengen, orthodoxen Vater, viele Jahre ein angesehener erfolgreicher Kaufmann, mit einer Henkersschlinge um den Hals. Zeitpunkt: Mitte September 1939, wenige Tage nach dem Überfall Nazideutschlands auf Polen. Wenige Minuten später war der Vater tot.

Überlebenswille

So macht sich John auf. Zu Beginn des Romans ist er Chefbibliothekar der renommierten University of Michigan in Ann Arbor und verheiratet mit einer jüdischen Amerikanerin, hat zwei kleinere Töchter, ein Haus mit Doppelgarage und ein Automobil, kurz: Er hat den amerikanischen Traum realisiert. Er reist nach Europa, nach Deutschland, wo er weiß, dass Angehörige von ihm leben. Einst, in Schwetz, gab es nicht nur die ökonomisch überaus erfolgreichen Segalls, sondern auch Kreuz-und-quer-Verwandte, die sich gerade so, von Tag zu Tag, durchschlugen wie die Rubins. Und die Kohanims. Und die Bukofzkers. Mit all diesen ist John verwickelt und fern verwandt.

So ist es eigentlich ein Vier-Familien-Roman, den Marcia Zuckermann geschrieben hat. Ein Roman über Überleben und Überlebenswillen und Tod, über Vernichtung, Zerstörung und Um-die-Welt-Zerstreuung, über Phantome der Geschichte und die brutalen Fußabdrücke von Hass, Hetze, Rassenwahn und Verblendung.

John fliegt nach Westberlin. Von dort wird er weiter- und weitergereicht, nach Frankfurt, auch nach Wien. Sukzessive erfährt er die Geschichten der Verwandten, von denen der eine von den Nazis vier Jahre in ein Gefängnis gesperrt wurde, was ihn gesundheitlich noch Jahre später brachial einholt. Ein anderer floh über die deutsch-niederländische Grenze und kam nach England; dort fiel dann viel später seine Familie auseinander. Andere wurden ermordet. Wieder andere, die Bukofzkers, hatten versucht, 1940 die Donau hinab bis nach Rumänien zu gelangen. Das schafften sie. Die Einreise nach Palästina, damals britisches Mandatsgebiet, misslang aber. Zwei Jüngere schlugen sich illegal über die Grenze und schlossen sich jüdischen Untergrundorganisationen an, die die Briten hinfort- und einen Staat Israel herbeibombten. Die übrigen Bukofzkers verschlug es dann nach Mauritius.

Marcia Zuckermann, "Schlamassel! Ein Familienroman". € 24,70 / 416 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021.
Foto: Verlag

Gespaltenes Leben

John reist auch in die Schweiz, wohin sich einer der Rubins 1940 retten konnte, nachdem er sich die Papiere und somit die Identität eines an den Zeitläuften verzweifelnden Selbstmörders entlehnt hatte. Mit allen damit einhergehenden Problemen, zuvörderst dem Umstand, dass er selbst es kaum über das schulisch geforderte Minimum hinausschaffte, während der Tote Hochschullehrer gewesen war. Seit zwanzig Jahren lebt nun dieser Georg Rubin ein gespaltenes Leben.

John findet heraus, was genau mit seinem Vater passierte. Auch wer damals die Fotografie machte, obwohl dies verboten war. Er findet völlig überraschend und sehr verstörend für ihn seine Mutter. Die Last der Geschichte und der Reise zurück in die Zeit kostet ihn seine Ehe und seine Familie. Und doch hat er, ganz am Ende, Aussicht auf eine andere, neue Familie.

Fast zu leicht, fast zu groß

Ein fast zu großes Thema hat sich Zuckermann gewählt. Mehr als eine Generation überwölbend, einen Weltkrieg, die Shoah. Fast zu leicht ist ihr mit Humor imprägnierter Ton. Andererseits macht der Duktus ihrer unterhaltsamen Prosa das Buch zugänglich für Jüngere. Und gerade diese sollten dieses wendungsreiche, kompositorisch sich größerer Komplexität entschlagende Buch lesen. Es will unterhalten. Das tut es. Und bietet dabei, ganz ähnlich wie der Bestseller-Schelmenroman Nächstes Jahr in Jerusalem, den der jüdische Schweizer André Kaminski 1986 im Alter von 63 Jahren veröffentlichte, Ergreifendes, Lustiges, Bitteres, Aufklärendes. (Alexander Kluy, 6.11.2022)