Es geht um "Unterwelten": Das Motto des 31. Alte-Musik-Festivals Resonanzen im Wiener Konzerthaus führt hinunter zu diversen Tiefenschichten unserer Existenz. Es geht natürlich auch heiter zu. Resonanzen erinnert aber auch an eine der wesentlichen, doch eher verborgenen Wurzeln der Musik, die einst auch dazu diente, um mit den Ahnen zu kommunizieren und die Verblichenen zu besingen. Ein Fenster zum faszinierenden Kosmos des Unbewussten öffnet die Musik außerdem ohnehin immer.

Die Operngeschichte – nach modernem Verständnis – begann denn auch mit einer Reihe von Vertonungen einer der berühmtesten Reisen ins Jenseits und zurück, jener des Sängers Orpheus. Claudio Monteverdi hat sie am wirkmächtigsten in Töne gefasst. Daneben existiert eine Reihe anderer Bearbeitungen des Stoffes. Und nachdem sich die Resonanzen schon immer um vergessene Meisterwerke bemüht haben, vermeiden sie auch heuer wieder das Allzubekannte und holen eine Rarität nach der anderen aus der musikgeschichtlichen Versenkung.

Ārt House 17 widmet sich jüdischen Barockkomponisten.
Foto: Art House

Orfeo nell’inferni heißt ein Intermezzo von André Campra, das seiner Comédie lyrique Le Carnaval de Venise entstammt und das die Gruppe Les Arts Florissants in den Mittelpunkt eines Programms stellt, das ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts ein buntes Pasticcio verschiedener Stücke miteinander kombiniert, die thematisch dazu passen.

Unterwelt der Stimmen

Kombinatorisch originell ist von jeher die gesamte Festivaldramaturgie. Und so erlaubt sie sich, das eigene Motto nach Belieben zu drehen und zu wenden. "Unterwelt" meint dann zum Beispiel auch die tiefste Stimme im musikalischen Gefüge – und das ist in der Zeit zwischen Monteverdi und Johann Sebastian Bach der Generalbass.

Die Flötistin Dorothee Oberlinger erklärt uns die Welt der Harmonien
Foto: Resonanzen

So wie in der modernen Popularmusik nur die Melodie und die Akkorde notiert werden, begnügte man sich damals oft mit der Bassstimme und Ziffern für die Harmonien. Blockflötistin Dorothee Oberlinger widmet sich dieser Thematik mit ihrem Ensemble 1700 ganz praktisch, aber vorab auch in der Theorie: Vor ihrem Konzert gibt sie einen "Crashkurs in Sachen Generalbass".

Weiter geht es in der metaphorischen Reise zu "Rolling Stones" und zur Verbindung eines Schwarz-Weiß-Films über einen alten Steinkult in den Abruzzen mit einer zwölfstimmigen Messe von Antoine Brumel. Die Veranstalter weisen darauf hin, dass um 1600 in der Kompositionsgeschichte "kein Stein auf dem anderen" geblieben sei. Das Ensemble Graindelavoix bemüht sich in seiner Interpretation, die Kühnheit der polyfonen Schreibweise auch mit modernem Instrumentarium und sogar elektroakustischen Mitteln unter Beweis zu stellen.

Lars Ulrik Mortensen (Cembalo, Leitung) und Concerto Copenhagen setzen Händels Oratorium "La Resurrezione" um.
Foto: LEES

Die bösen Geister fernhalten sollen auf vielen Kirchen seit dem Mittelalter hässliche Fratzen über den Portalen und an den Außenwänden. Aber auch die Bücher dieser Zeit – noch von Hand geschrieben und gemalt – enthalten derartige Figuren, die oft fantastische Zwitterwesen aus Tier und Mensch darstellten. Antonio Berardo Andrea war zunächst Buchmaler und wurde dann Sänger und Komponist in der päpstlichen Kapelle in Rom. Das Ensemble La fonte musica verbindet seine Musik mit "Projektionen grotesker mittelalterlicher Miniaturen" und sucht nach Parallelen zwischen der akustischen und visuellen Ebene.

Musikalische Höhepunkte

Weitere musikalische Höhepunkte lassen das Concerto Copenhagen sowie das Ensemble Les Épopées erwarten: Ersteres mit einer Aufführung von Händels Oratorium La Resurrezione ("Die Auferstehung"), das seit fast 40 Jahren nicht mehr im Konzerthaus aufgeführt wurde, Letzteres beim heurigen "Essenskonzert" mit einer Collage musikalischer Szenen aus der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts, womit sich ein Kreis zu André Campras Le Carnaval de Venise schließt.

Auch die Combo Graindelavoix mit Björn Schmelzer reist zu den Resonanzen an.
Foto: Resonanzen

Das ist aber noch längst nicht alles, was sich innerhalb einer Woche unterbringen lässt: Das Kollektiv Ārt House 17 erinnert unter anderem mit Werken jüdischer Barockkomponisten an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Jänner 1945. Die Perspektive des Festivals reicht nämlich schon immer weit aus der Zeit der gespielten Musik hinaus, wie auch die im Rahmenprogramm gezeigten Filme beweisen. Daneben gibt es unter anderem einen Barocktanzkurs, ein "UNIkate"-Konzert der MUK (Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien) und eine Programmschiene für Kinder – sowie, nach zweijähriger Pause, die Ausstellung des Instrumentenbaus.

Kurz und knapp gesagt: Die Resonanzen-Reihe ist wieder – bei allem Ernst, der stets mitschwingt – ein Fest für (fast) alle Sinne. (Daniel Ender, 4.11.2022)