Nicht nur im Iran, auch sonst auf der Welt wird an vielen Orten gegen das Regime demonstriert – eindrücklich etwa hier in Köln.

Foto: Imago / aal.photo

Die Revolutionsbewegung im Iran ist am Wochenende fünfzig Tage alt geworden. Das heißt, seit fünfzig Tagen, seit dem gewaltsamen Tod einer jungen Frau, wird auf den Straßen ausgetragen, was schon lange in der iranischen Gesellschaft vorhanden war: Viele Iranerinnen und Iraner wollen die nationalreligiöse Zwangsordnung der Islamischen Republik loswerden. Sie bringen das nicht zum ersten Mal zum Ausdruck, aber nie zuvor mit einem so großen individuellen und kollektiven Mut ausgestattet.

Die Bewegung wird von Frauen angeführt, die der Staat seit Jahren zu sichtbaren Trägerinnen seiner Ideologie macht. Viele andere Themen sind daneben aufgebrochen, ethnische Diskriminierung, Unterdrückung anderer religiöser Gruppen, soziale Ungerechtigkeit. Alle Demonstrantinnen und Demonstranten vereint der Wunsch nach Freiheit und Emanzipation.

Bis in die Knochen indoktriniert

Es ist unbestreitbar, dass es mehr als 43 Jahre nach der Islamischen – beziehungsweise der von den Islamisten gekidnappten – Revolution auch Teile der iranischen Gesellschaft gibt, die nicht nur nichts anderes kennen, sondern sich auch nichts anderes vorstellen können als das jetzige System. Sie sind bis in die Knochen indoktriniert, viele glauben an die Sache, für sie haben viele Familien – man denke an den schrecklichen achtjährigen Krieg gegen den Irak – große Opfer gebracht. Ihre Existenz ist an die des politischen Establishments gebunden; sie haben Angst, mit diesem unterzugehen. Aber sogar einigen von ihnen dämmert, dass die Elite ganz anders und viel bequemer lebt als die meisten von ihnen.

Die große Frage ist, wie gut der "Apparat" hält, wie lange er bereit ist, auf der Straße Gewalt gegen Mitbürgerinnen und Mitbürger auszuüben. Der Befund ist nicht eindeutig. Es gibt jene Szenen, in denen furchtlose Frauen das ihnen aufgezwungene Stück Stoff öffentlich abnehmen und zu Fahnen des Aufstands umfunktioniert vor sich hertragen. Manchmal sieht man dann auch Sicherheitskräfte in der Nähe, die bewusst in die andere Richtung schauen, nicht einschreiten: im Gegensatz zu dem, was der Staat von ihnen erwartet.

Ordnung und Terror

Im nächsten Augenblick ist man wieder mit Bildern konfrontiert, die eine unfassbare Brutalität der Regimeschergen zeigen. Es ist ersichtlich, dass nicht nur "Ordnung" hergestellt, sondern auch Terror verbreitet werden soll – abgesehen davon, dass sicher manche ihre persönlichen Gewaltfantasien ausleben. Diese Szenen machen auch klar, dass das Regime noch Eskalationspotenzial hat. Und das wird auch ziemlich offen angesprochen.

Dazu scheint es aber Meinungsunterschiede zu geben: Zwar wird das Regime nicht von der Verschwörungstheorie abgehen, dass die Proteste vom Ausland gesteuert sind. US-Präsident Joe Bidens Sager "Wir werden den Iran befreien" war in dieser Beziehung nicht gerade hilfreich. Dennoch gibt es ein paar iranische Politikerstimmen, wonach die "jungen Leute" vielleicht trotzdem ein paar legitime Anliegen haben.

Das deutet darauf hin, dass die Proteste auch Leuten im Establishment langsam unheimlich werden. Berichte darüber, dass manche ihre Familien ins Ausland bringen, sind schwer nachzuprüfen. Verwundern würde es nicht. Denn dass das System nicht reformierbar ist, wissen sie alle. Wenn der Zwang wegfällt, ist die Islamische Republik weg. (Gudrun Harrer, 7.11.2022)