Wäre die 9. Moskauer Internationale Biennale für zeitgenössische Kunst am vergangenen Freitag wie geplant in den Räumlichkeiten der Tretjakow-Galerie eröffnet worden, wäre dies ihre eigenartigste Ausgabe gewesen. Nicht nur, dass von "international" seit dem Überfall auf die Ukraine keine Rede mehr sein konnte.

Die gesamte Ausstellung war aus unerfindlichen Gründen unter strenger Geheimhaltung vorbereitet worden: Eine Liste mit 27 russischen Teilnehmern wurde erst nach der Verkündung der Absage bekannt, die Kuratoren blieben anonym. In besseren Tagen war die Biennale von Hans Ulrich Obrist, Jean-Hubert Martin, Peter Weibel oder Catherine de Zegher programmiert worden. Doch damals sollte Russland auch noch in die globale Kunstwelt integriert werden.

Wiewohl abgesagt, gibt die 9. Moskauer Biennale per Video Einblicke. Auf der Website erklären die Macher sich sowie Kunstwerke der Schau.
Moscow International Biennale

"Die Veranstaltung wurde abgesagt, da eine Reihe von Exponaten dem Niveau des Ausstellungsorts Tretjakow-Galerie absolut nicht entsprachen", erläuterte das Kulturministerium am Donnerstag und gestand damit in ungewöhnlicher Offenheit ideologische Gründe ein. Das staatliche Museum selbst hatte den Hinauswurf der Biennale in einem Brief am selben Tag bloß mit der Nichterfüllung vertraglich vereinbarter Fristen begründet. Neben einem Verweis auf eine "erhöhte Bereitschaft", die Wladimir Putin im Zusammenhang mit einer partiellen Ausrufung des Kriegsrechts dekretiert hatte, war aber auch die Rede davon, dass bei Mitarbeitern eines kurzfristig beauftragten Subunternehmens "bestimmte Überprüfungsmaßnahmen in föderalen Schutzorganen" nicht durchgeführt worden seien.

Letzteres ließ sich als Verweis auf Aktivitäten des Inlandsgeheimdienstes FSB verstehen, der bereits im Frühjahr in der Tretjakow-Galerie mit der überraschenden Schließung einer Ausstellung des Konzeptkünstlers Grischa Bruskin in Verbindung gebracht worden war. Seit damals gab es in der Galerie wiederholt Probleme mit Ausstellungen lebender Künstler, deren Hintergrund bislang niemand schlüssig erklären wollte.

Akt der Zensur

Obwohl es sich bei dieser Entscheidung um einen auffälligen Akt der Zensur handelte, blieb ein Aufschrei aus. Dies hatte nicht nur mit dem totalitären Kurs des Landes oder der kürzlich erfolgten Flucht hunderter Künstler vor Repressionen oder Zwangsmobilisierung zu tun, sondern auch mit der umstrittenen Biennale-Leiterin: Julija Musykantskaja, eine Ex-Assistentin des nunmehrigen Putin-Assistenten Wladimir Medinski, hatte seit ihrer Berufung 2016 unglücklich agiert. Sie hatte dafür gesorgt, dass der Event auch aus Moskauer Perspektive massiv an Relevanz einbüßte.

2022 versuchte Musykantskaja freilich, sich politisch abzusichern. Sie erklärte, dass es in der Schau weder Rowdytum noch Nihilismus oder subtilen Protest geben werde. Zudem involvierte sie den einflussreichen Direktor der Petersburger Eremitage, Michail Piotrowski, der vergangene Auslandsaktivitäten seines Museums im Sommer als "eine Art Spezialoperation" dargestellt hatte.

Patriotischer Headliner

Als patriotischer Headliner hätte der Künstler Sergej Bugajew Afrika, der ebenso keinen Zweifel an seiner Unterstützung von Putins Krieg lässt, mit einer Installation über das Schleifen sowjetischer Kriegerdenkmäler im nunmehr verfeindeten Ausland fungieren sollen. Seine Arbeit habe 1995 in Wien begonnen, wo er in seiner Personale im Museum für angewandte Kunst (Mak) Lenin-Statuen aufgestellt habe und wo er damals Proteste gegen das sowjetische Heldendenkmal auf dem Schwarzenbergplatz beobachtet habe, erläutert der Künstler in einem Telefonat mit dem STANDARD. Er habe in der Folge stets registriert, wenn "irgendwelche Faschisten" etwa im Baltikum Sowjetdenkmäler zerstörten. Auch sei er überzeugt, dass sie allesamt wiedererrichtet würden.

Hinter der Absage der Ausstellung sieht er indes westliche Geheimdienste sowie "eine von Aleksandr Dugin beschriebene sechste Kolonne", die verboten hätten, in der Tretjakow-Galerie Teilnehmer aus Donezk und Luhansk als russische Künstler zu präsentieren. Kulturministerin Olga Ljubimowa sei in die Irre geführt worden, sagt er. Am vergangenen Freitag hat sich Bugajew zudem öffentlich an die antiwestlichen Hardliner Dmitri Medwedew und Nikolaj Patruschew im staatlichen Sicherheitsrat gewandt und sie ersucht, für die Biennale einen neuen Ort zu finden. Anfang dieser Woche gab es Indizien dafür, dass der Künstler erhört worden sein könnte: Ministerin Ljubimowa sagte, dass die "umstrittene Schau" womöglich an einem anderen Ort gezeigt werde.

Schwarze Listen?

Keine Erklärungen gab es indes bisher zu den Hintergründen des Hinauswurfs aus der Tretjakow-Galerie. Denkbar wäre ein Zusammenhang mit schwarzen Listen, die zuletzt in bester KGB-Tradition etwa in städtischen Kulturinstitutionen Moskaus zum Einsatz kamen.

Derartige Listen spielen auch im russischen Theaterbetrieb eine zunehmende Rolle: Die Namen von Personen, die im Ausland leben und den Krieg gegen die Ukraine verurteilen, verschwinden von Ankündigungen. So verheimlicht das renommierte Tschechow-Kunsttheater in Moskau nunmehr, wer das seit 2018 laufende Stück "Serjoscha" inszeniert hat. Auf einem aktuellen Programmzettel heißt der Regisseur nur noch "Regisseur". Der in New York tätige Dmitri Krymow verschwand auch von der Homepage des Theaters, wo er im September im Zusammenhang mit dem Stück noch genannt worden war. (Herwig G. Höller, 9.11.2022)