In der Nacht wachsen im Körperinneren neue Organe heran: David Cronenbergs neuester Film "Crimes of the Future" bilanziert beinahe nostalgisch das eigene Schaffen.

Nikos Nikolopoulos

Das Abendland ist eine geistige Formation, die aus Fleisch immer Geist und aus jedem Saulus einen Paulus machen möchte. So könnte man das zuspitzen, würde aber natürlich gleich Widerspruch erfahren. Zum Beispiel von David Cronenberg, der mit seinen Filmen darauf besteht, dass aus Fleisch eben kein Geist wird, sondern neues Fleisch oder vielleicht auch einmal eine Prothese. Oder ein Kunststoff, den man essen kann, sodass man die ganze Welt mit Ikea-Kübeln ernähren könnte.

In Crimes of the Future, dem neuen, nostalgisch bilanzierenden Film von Cronenberg, ist es nicht das Plastik, das sich dem Menschen kulinarisch anpasst. Es sind die Menschen, die Verdauungsorgane für das entwickeln, was viele für eines der großen Zivilisationssignale halten: dass in den Ozeanen nicht mehr nur Fische und Algen schwimmen, sondern halbe Kontinente aus PVC.

KinoCheck

Im ersten Bild von Crimes of the Future liegt signalhaft ein Schiff im Wasser, eine Costa Concordia der nahen Zukunft, ein Wrack wie ein gestrandeter Wal aus einer Tierwelt, die gleich einmal Andeutungen eines evolutionären Durcheinanders macht. "Evolutionary derangement" lautet einer der Begriffe, mit denen Crimes of the Future um sich schmeißt. Zum Prinzip der Evolution gehört es, dass sie dem Zeitpfeil folgt, aber auch dieses Prinzip hebt Cronenberg auf. Seine dystopische Welt könnte man ebenso gut in das Jahr 2050 wie in das Jahr 1970 legen. Ein Epochensignal ist dabei dezidiert kunstgeschichtlich: Wann hat sich zum ersten Mal jemand den Mund zugenäht und das als Performance bezeichnet? Wann sprach man zum ersten Mal von Body-Art?

Neue Organe wachsen

Der Saulus in Crimes of the Future heißt Saul Tenser (Viggo Mortensen). Er trägt bevorzugt eine Kutte, wie sie bei Ingmar Bergman der Gevatter Tod anhat. Die Nächte verbringt Saul in einem Bett, in dem er Schmerzen ausbrütet, während er in seinem Körperinneren neue Organe wachsen lässt. Seine Partnerin Caprice (Léa Seydoux) schneidet ihn dann öffentlich auf und tätowiert seine Hervorbringungen, um sie als Objekte auszustellen. So schließt sich der Kreis von einer Schöpfungsordnung zur nächsten, vom natürlichen Wachstum zum Readymade, mit der Zwischenstufe des neoheidnischen Brandings mit dem Tintenstift. Um dem ganzen Projekt auch einen anspruchsvollen Titel zu geben, spricht Caprice einmal von der "anatomy of today’s pathology". Das wäre auch ein schöner Filmtitel gewesen: Anatomie einer Pathologie. Vorzuführen bevorzugt in Narrentürmen und Folterkammern.

Bio-Avantgarde

Cronenberg war im Kino immer schon Avantgarde, weil er früh gegenüber den Abstraktionen der Technik auf der Leiblichkeit der menschlichen Zukunft bestand. Er war schon bio, als diesen Begriff nur ein paar Steinerianer bei ihren Mondmessungen für den kostbaren Moment verwendeten, in dem sie der Krume künftige Erdäpfel anvertrauten. Cronenberg ließ die Natur unnatürlich werden, machte aber vor allem die Science-Fiction organisch, auch mit Filmtricks, die wirkten wie schiefgegangene Praterkuriositäten. So vertieft sich Caprice in Crimes of the Future auch einmal in die Eingeweide von Saul, der darauf mit der großartigen Warnung reagiert: Nichts verschütten!

Im Hintergrund steht eine interessante Überlegung: Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die keine Schmerzgrenzen mehr kennt? Normalerweise denkt man dabei eher an aseptische, klinische Welten, während Cronenberg genau in die andere Richtung geht, in Kathedralen der alten Ontologien und zu Möbeln, die wie latent sadistische Exoskelette wirken (eines heißt Breakfaster, es hilft beim Essen).

Auch beim Sex wird in Crimes of the Future zwischen altem und neuem unterschieden, beim neuen tritt das Skalpell oder auch einmal die Bohrmaschine an die Stelle des Phallus. Innere Schönheit muss äußerlich werden, dazu bedarf es einschneidender Eingriffe. Sehr entspannt führt Cronenberg bei all dem die verwirrende Dramaturgie zahlreicher Neo-Noirs mit, es gibt vage Ideen von Subversion und Revolte. Im Grunde ist das nicht wichtig.

Als Spätwerk ist Crimes of the Future weniger Bilanz als Potpourri: eine Eingeweideschau in Verbrechen, die bei einem geringeren Könner als Selbstplagiat (oder gar als Selbstparodie) zu verurteilen wären. (Bert Rebhandl, 11.11.2022)