Eine Frau, eine Stadt, ein Buch – der Verleger musste Elke Heidenreich erst ins Gewissen reden: "Elke, das ist eine Ehre, das nimmst du gefälligst an!"

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Jeden Morgen um neun, schreibt die in Köln lebende Autorin, Moderatorin und umtriebige Literaturkritikerin Elke Heidenreich in ihrer E-Mail, ist sie mit dem kleinen Vito spazieren gegangen, im August ist er gestorben. Aber die Hundegruppe hat gesagt: Du musst weiter mit uns gehen. Und das tut sie auch, deswegen telefonieren wir erst um elf. "Da habe ich schon einen Spaziergang hinter mir gegen den Kummer und sitze am Schreibtisch."

STANDARD: Beim Literaricum Lech waren Sie noch mit Ihrem Hund. Ich erinnere mich genau, wie Sie mit Vito mit dem Sessellift zur Lesung auf den Berg gefahren sind.

Heidenreich: Er war sehr alt. Es war seine letzte Reise, und er ist mit mir, so tapfer, ganz hinauf. Er musste bald danach operiert werden, das hat sein Herz nicht mitgemacht. Ich habe in diesem Sommer viel geweint. Jetzt liegt er in Köln bei mir im Garten, der süße Kerl. Aber so ist das mit den Tieren, wir verlieren sie. Das kenne ich schon von anderen Tieren auch.

STANDARD: In "Nero Corleone" geht es um einen Kater, über den wir noch reden werden. Doch zuvor: Wie sind Sie zu Ihrer Tierliebe gekommen?

Heidenreich: Ich habe Tiere immer geliebt, aber zu Hause waren wir zu beengt, als dass ich ein Haustier hätte haben dürfen. Mein Vater hatte eine Tankstelle mit Werkstatt und dort einen Hund gegen Einbrecher. Den mochte ich sehr und bin jeden Tag mit ihm gegangen, er lebte aber an der Tankstelle. Sobald ich eine eigene Wohnung hatte, hatte ich immer einen Hund oder eine Katze. Und oft auch beide gleichzeitig. Wenn man sich Mühe gibt, dann klappt auch das. In den Jahren, in denen ich viel gereist bin, hatte ich manchmal kein Tier. In den vergangenen zehn Jahren hatte ich wieder diesen Hund, das hat mich knackig gehalten. Jetzt ist er tot, und ich werde achtzig und muss mir überlegen, ob ich mir überhaupt noch einmal ein Tier anschaffe. Das nächste Tier überlebt mich.

STANDARD: Gab es den Nero Corleone, über den Sie zwei Bücher geschrieben haben, wirklich?

Heidenreich: Ja, den gab es, und auch er liegt hier im Kölner Garten. Als ich länger in Italien war, sind mir von einem Bauernhof zwei Katzen zugelaufen, und der Bauer sagte: Nehmen Sie sie bloß mit, wir haben viel zu viele Katzen. Die Nero-Vorlage sah nicht ganz so spektakulär aus wie der Mafia-Kater im Buch, den Quint Buchholz so wunderbar gezeichnet hat, mit seiner weißen Pfote. Aber auch der echte Nero war ein großer, starker, sehr frecher Kater, der Rotkehlchen gekillt, Nachbarn tyrannisiert und Katzen geschwängert hat.

STANDARD: Die Stadt Wien verteilt ab dem 22. November Ihren Roman "Nero Corleone" und seine Geschichten in einer Auflage von 100.000 Gratisexemplaren. Im 21. Jahr der Aktion "Eine Stadt. Ein Buch" sind Sie die Nachfolgerin von Schriftstellern und Schriftstellerinnen wie Ruth Klüger (2008), Mario Vargas Llosa (2011), T. C. Boyle (2013) oder Hillary Mantel (2018). Waren Sie überrascht?

Heidenreich: Mein Verlag hat mich informiert, und ich habe das Ganze spontan sofort abgelehnt, weil ich zunächst nicht Bescheid wusste. Ich dachte daran, dass ich Nero 1995 geschrieben und mich seither weiterentwickelt habe, dass ich es gar nicht vertreten kann, wenn ein Buch, das 28 Jahre alt ist, so gefeiert wird. Dann hat mir mein Verleger derart ins Gewissen geredet und gesagt: "Elke, das ist eine Ehre. Das nimmst du gefälligst an!" Und dann habe ich erst begriffen, mich ein bisschen geschämt und es dankbar angenommen (lacht). Ich weiß schon, dass mir da mit leichter Hand etwas gelungen ist, umsonst geht ein Buch auch nicht über eine Million Mal über den Ladentisch. Ich habe damals auch über hundert Lesungen in Schulen gemacht. Das Buch ist an zwei Nachmittagen entstanden, allerdings mit einem Jahr Pause dazwischen. Für Erwachsene ist es eine Liebesgeschichte und für die Kinder eine Katzengeschichte. Zusammen mit den wunderbaren Bildern von Buchholz ging das Ding dann durch die Decke, damit hatte ich nie gerechnet.

STANDARD: Sagen Sie, wie bringt man Kinder zum Lesen? Wie kulturpessimistisch sind Sie, wenn es um dieses Thema geht?

Heidenreich: Überhaupt nicht. Ich finde, dass Bücher uns retten. Wir haben das bei Corona gesehen, Bücher werden weiterhin gekauft. Dass Kinder angeblich nicht lesen, ist Quatsch. Gebt ihnen den richtigen Stoff, seid ihnen ein Vorbild und lest ihnen vor! Jedes Kind will Geschichten hören, wir müssen sie ihnen nur vorlesen. Wir haben das bei Harry Potter erlebt: Kinder, die angeblich nicht lesen, lesen 800 Seiten in zwei Tagen. Wenn Eltern sagen, mein Kind liest nicht, und selbst nie Zeit haben, ein Buch zu lesen, dann kann ich nur sagen: selbst schuld!

STANDARD: Sie betonen immer wieder, dass Bücher Sie gerettet haben. Wie sind Sie als Kind an Bücher herangekommen?

Heidenreich: Wir waren arm, beide Eltern waren berufstätig, damit wir über die Runden kamen. Das waren schwierige Verhältnisse. Ich saß den ganzen Tag allein, eingemummelt in eine Decke, in einer hässlichen, nicht beheizbaren Wohnung und habe gelesen. Das Lesen konnten wir uns leisten, weil es eine Stadtbücherei gab. Da ich eine sehr schöne Schrift hatte, durfte ich Karteikärtchen beschriften. Dafür konnte ich leihen, was ich wollte, und habe alles, was ich kriegen konnte, gelesen. Das hat mich über meine Einsamkeit hinweggetröstet, und so ist es bis heute. Ein Buch ändert nichts, aber man taucht für drei Stunden in etwas anderes ein, jammert nicht, taucht gestärkt wieder auf und hat Kraft, seine eigenen Probleme anzugehen.

Zuletzt erschienen von Elke Heidenreich "Hier geht’s lang" (Eisele-Verlag, 2021), "Alles kein Zufall" (2016), "Männer in Kamelhaarmänteln" 2020) und "Ihr glücklichen Augen" (2022) im Hanser-Verlag.
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STANDARD: Als Sie jung waren, war der Kanon, der gesamte Markt noch stark männlich dominiert. Das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch "Hier geht’s lang. Mit Büchern von Frauen durchs Leben!" Wann hat sich das geändert?

Heidenreich: Wir hatten noch ein Frauenbild, das vollkommen antiquiert war. Das musste sich alles erst nach dem Nationalsozialismus entwickeln. Erst nach dem Krieg haben Frauen ihre Stimme erhoben. In den Sechzigerjahren haben wir immer gefragt, was machen die Amis in Vietnam, aber irgendwann haben wir auch unsere Eltern gefragt, was habt ihr eigentlich im Krieg gemacht. In der Zeit haben wir Sartre und Camus gelesen, aber festgestellt: Es gibt auch eine Simone de Beauvoir. Wir haben die Frauen als unsere Stimme entdeckt: Virginia Woolf und Dorothy Parker. Seitdem wurden die Stimmen von Frauen, zumindest in demokratischen Ländern, immer hörbarer. Das finde ich eine schöne Entwicklung.

STANDARD: Ende Oktober standen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste acht Autorinnen, ein Schriftsteller und eine nonbinäre Person, Kim de l’Horizon mit dem Titel "Blutbuch", das den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Ist damit eine Geschlechtergerechtigkeit in der Literatur hergestellt?

Heidenreich: Ja, das ist tatsächlich erstaunlich und erfreulich, aber ich bin ja gegen jegliche Übertreibung und finde, man soll jetzt nicht nur noch Bücher von Frauen verlegen. Ich persönlich finde zum Beispiel den Nobelpreis für Annie Ernaux nicht angemessen, solange es in den USA so gewaltige Erzähler wie Don DeLillo und Thomas Pynchon gibt. Da reicht Annie Ernaux nicht heran. Ich finde ihr Werk als Ethnologin ihrer selbst beeindruckend und konsequent, aber hier geht es um große Literatur. Da hätte man lieber einen dieser Kerle auszeichnen sollen. Ich habe Männer und Frauen immer als gleichberechtigt empfunden. Wenn eine Frau ein schlechtes Buch schreibt, sage ich das auch. Ich finde, Geschlecht ist keine Kategorie.

Elke Heidenreich mit ihrem Kater Nero, der als Figur ihres Bestsellers bekannt wurde.
Foto: Privat

STANDARD: Sie sind feministisch, aber gegen das Gendern, sehe ich das richtig?

Heidenreich: Ich bin Feministin, aber lasse mich nicht vereinnahmen. Und, richtig, ich bin total gegen die Genderei, weil es die Sprache verhunzt. Es gibt keine Komponist:innen. Wo bleiben da die Komponisten? Es spricht sich schlecht, sieht nicht gut aus. Ich werde das in meinem Leben nie machen. Es geht um die Sternchen und das Stocken der Sprache. Wenn jemand Ärztinnen und Ärzte sagt, meinetwegen. Mein Selbstverständnis ist so, dass ich mich mit "Künstler" auch angesprochen fühle. Ich empfinde es als Rückschritt, extra als Mädchen angesprochen zu werden. Ich brauche das nicht.

STANDARD: In Ihrer "Spiegel"-Büchersendung "Mehr Lesen mit Elke Heidenreich" haben Sie kürzlich die Autobiografie von Werner Herzog empfohlen. Als Viennale-Ehrengast hat er auch in Wien gelesen. Dieser mitunter störrische Kerl hat sich gerne feiern lassen. Braucht man den Applaus auch, wenn man schon sehr erfolgreich ist?

Heidenreich: Man braucht ihn nicht, trotzdem tut er gut. So wie man Geld nicht unbedingt braucht, aber wenn man es hat, kann man sorgenfreier leben. Herzog hat sich nie darum geschert, wer ihn mag oder nicht. Er war stets souverän, ist aber heute altersmilde und freut sich, dass sein ganzer Trotz sich nicht gegen ihn kehrt, sondern dass seine Kunst angenommen wird. Ich bin ein großer Fan, vor allem seiner Bücher. Seine Autobiografie hört mitten im Satz auf, da legt er die Feder hin und sagt: Jetzt ist Schluss.

STANDARD: Auch empfohlen haben Sie den wunderbaren Titel der bis dato unbekannten Tillie Olsen "Ich steh hier und bügle". Standen Sie auch mal da im Leben und mussten bügeln?

Heidenreich: Nein, ich habe mich verweigert und wusste immer, dass ich keine Familie und keine Kinder haben will. Ich hatte Ehen und Beziehungen, aber es bleibt ein anderer Lebensentwurf. Ich habe selbstbestimmt gelebt, hatte immer mein eigenes Geld und im Sinne von Virginia Woolf ein Zimmer für mich allein.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass Ihnen der Bestsellererfolg von "Nero Corleone" dieses von Virginia Woolf geforderte Zimmer für sich allein beschert hat?

Heidenreich: Ja. Es ging mir vorher schon gut, weil ich immer fleißig war, viel für Rundfunk und Fernsehen gemacht hatte. Aber das kleine, schöne Haus in Köln, in dem ich heute noch lebe, das hat alles dieser Kater finanziert. Dessen bin ich mir jeden Tag bewusst.

STANDARD: Sie haben erst mit fünfzig angefangen, Bücher zu schreiben, und haben sich während Corona zu einer Vielschreiberin entwickelt. Sie machen den Eindruck, als würde Ihnen das Altwerden nicht viel anhaben.

Heidenreich: Ich fand Jungsein tatsächlich schwieriger, nicht zu wissen, wo es langgeht im Leben. Aber Alter ist wie Jugend kein Verdienst an sich. Im fühle mich nicht so alt, manchmal fühle ich das Nachlassen von Kräften, aber eher körperlich, nicht geistig. Aber das hatte ich schon als junges Mädchen, ich konnte vieles mit meiner halben Lunge nicht machen. Mein Kopf ist wach und arbeitet munter weiter.

STANDARD: Aber Disziplin braucht es schon.

Heidenreich: Die hatte ich immer. Ich war keinen Tag in meinem Leben angestellt, immer frei. Da braucht es Disziplin, am Schreibtisch zu sitzen. Früher in den Nächten, jetzt an den Vormittagen. Und das eisern, von zehn bis 15 Uhr. Ich liebe meinen Beruf, aber man muss sich zwingen. Während Corona, ganz ohne Lesungen und Reisen, habe ich an den Büchern weitergeschrieben, die ich heimlich meine Autobiografie nenne: Alles kein Zufall, Männer in Kamelhaarmänteln und Ihr glücklichen Augen.

STANDARD: Schon 2011 haben Sie den zweiten "Nero"-Teil geschrieben und Ihren Kater nach Italien zurückkehren lassen. Zweimal kommt in den Büchern ein Mini-Exkurs zu Peter Handke vor, der auch demnächst 80 wird, und die Fragestellung, ob Handke nun ein guter Autor sei oder nicht. Was sagt die Literaturkritikerin?

Heidenreich: Nicht viel. Ich habe seine frühen Bücher wie Wunschloses Unglück sehr gern gelesen. Später bin ich ihm dann in seine Innerlichkeitsphasen nicht mehr so gefolgt.

STANDARD: Österreich wird im Frühjahr 2023 Gastland auf der Leipziger Buchmesse sein. Was fällt Ihnen spontan zu österreichischer Literatur ein?

Ab 23. November werden 100.000 Gratisexemplare ihres 28 Jahre alten Bestsellers "Nero Corleone" in Wien verteilt.
Foto: Verlag

Heidenreich: Natürlich erst einmal Handke und Jelinek, die ja beide den Nobelpreis bekommen haben. Über die Jelinek kommt jetzt ein ausgezeichneter Film von Claudia Müller ins Kino. Dann die sehr rührige Familie Menasse und Josef Haslinger, den ich immer gern gelesen habe. Aber aufgewachsen bin ich mit Karl Kraus und Die letzten Tage der Menschheit, mit Alfred Polgar oder Arthur Schnitzler, die guten alten Österreicher. Christine Lavant, diese großartige Dichterin. In meinem Reisebuch Ihr glücklichen Augen gibt es auch ein ausgiebiges Wien-Kapitel. Mir ist schon klar, wie stark unsere Kultur mit der österreichischen verbunden ist.

STANDARD: André Heller, mit dem Sie schon lange befreundet sind, hat das Nachwort zur Stadt-Wien-Ausgabe geschrieben. Im O-Ton schreibt er über "Nero Corleone": "Dieser Kater ist ein begnadeter Strizzi, ein Katernova, ein Revierkaiser …" Ist André Heller, der aktuell in den Basquiat-Rahmen-Skandal verwickelt ist, auch ein begnadeter Strizzi?

Heidenreich: Er ist überhaupt kein Strizzi, aber begnadet. Er war immer ein Mensch mit vielen Träumen und enormer Fantasie. Er hat uns wunderbare Sachen geschenkt, er schafft es, aus Wüsten Wasser zu schlagen. Er hat behauptet, dass er den Rahmen zusammen mit Basquiat gemacht hat. Jetzt stellt sich heraus, er hat ihn allein gemacht. Na und? Ich finde das alles eine künstliche Aufregung. Den Schaden, der auf diesem ohnehin überzogenen Kunstmarkt entstanden ist, den hat er beglichen. Das alles schmälert meine Freundschaft zu ihm keine Sekunde.

STANDARD: Ende November kommen Sie ein paar Tage nach Wien, worauf freuen Sie sich?

Heidenreich: Ich werde da sicherlich herumgereicht werden und finde das ganz wunderbar. Wenn zwischendurch Zeit bleibt, gehe ich in die Albertina und auf jeden Fall ins Hawelka. Da setze mich hin und hoffe, von einem unfreundlichen Kellner bedient zu werden, damit sich ein echtes Wien-Gefühl einstellt.

STANDARD: In "Ihr glücklichen Augen" haben Sie nicht nur frühere Reisen nach Wien beschrieben, Sie waren über die Jahre an vielen wunderbaren Plätzen auf der Welt. Ihr Buchtitel zitiert Goethe: "Ihr glücklichen Augen / Was je ihr gesehn / Es sei wie es wolle/ Es war doch so schön!" Ist Dankbarkeit für Sie eine Kategorie?

Heidenreich: Sie ist mein größtes Gefühl, trotz Krankheiten, trotz schlechter Startbedingungen. Ich hatte so ein schönes, selbstbestimmtes Leben. Ich durfte immer meine Meinung sagen in einem demokratischen Land und hatte alle Chancen und Möglichkeiten, im Gegensatz zu so unendlich vielen anderen Menschen auf der Welt, die hungern oder kilometerweit für frisches Wasser laufen müssen. Ich sehe gerade, wie sich die Welt ändert, und ich beneide kommende Generationen nicht um die enormen Herausforderungen, die auf die Welt und die Menschen zukommen. (ALBUM, Mia Eidlhuber, 14.11.2022)