Skizziert in ihrem Roman tröstliche Möglichkeitsräume: Die in Bludenz geborene Autorin Verena Roßbacher.

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In manchen Lebenslagen hilft nur Mon Chéri. Mit der Piemont-Kirsche. Das ist klar nach der Lektüre von Verena Roßbachers aktuellem Roman Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Was die anfängliche Irritation beim Namen – Roß oder Ross – betrifft, die Autorin weiß da auch nicht weiter. Nach Jahren des Aufwachsens in der Schweiz, wo das Eszett nicht gebräuchlich ist, mixe die gebürtige Vorarlbergerin sowieso wahllos die s-Laute.

Nun ist im Frühjahr das vierte Buch nach dem Erscheinen ihres turbulenten und medial bejubelten Debüts Verlangen nach Drachen im Jahr 2009 erschienen – ihrem Finale am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seitdem lebt die Autorin in Berlin, wo sie das Schreiben und Muttersein auf eine sie beglückende, unkomplizierte Weise verbindet. Ihre Abstecher nach Österreich sind sporadisch, die literarischen springen munter in alle drei Länder ihrer Aufenthalte.

Schreiben als Kür des Lesens

So ein erstes Buch sei mehr geträumt als "gedacht", sagt sie in der Rückschau, heiter und elegant sitzt sie da beim Antworten. Unbelastet gehe man ans Schreiben, mit autobiografischem Gepäck und der eigenen Lesetradition, einer durchaus österreichischen. Das Lesen war "immer die zentralste und wichtigste Beschäftigung und ist es sicher heute noch". Zwangsläufig musste das Schreiben folgen, die "Kür des Lesens", die eine "Art Selbstunterhaltung, ein permanentes Spiel" mit ihr selbst sei, "mal herausfordernd, mal launig, mal anstrengend, mal überraschend". Fazit: "Es lassen sich mache Dinge nicht denkend und auch nicht redend bewältigen, das Schreiben ist eine eigene Kategorie." Allerdings habe sich die Funktion des Schreibens im Verlauf der Entstehung ihrer Romane für sie verändert, vom Brauchen zum Wollen.

Mit staunenswerter Kontinuität schreibt Roßbacher an ihrem Werk und ist doch so leise in der öffentlichen Wahrnehmung. Aneinandergereiht füllen die vier großen Romane mindestens einen halben Regalmeter, ihr Umfang ist nahezu identisch, entstanden sind sie in einem circa vierjährigen Rhythmus. Und dabei seien die Anfänge immer so schwer und keine Ideen da, sagt sie. Auch die Kurzform würde sie gerne, aber könne sie nicht.

Kunstvolle Komposition

Roßbacher vermag ihre Bücher kunstvoll zu komponieren, ohne den Stoff einhegen zu müssen, dazu toben die Fantasie und das Spielerische im Umgang mit der Sprache zu sehr. Wer alle vier gelesen hat, weiß, was sie neben der vielen Esserei noch verbindet – ihr Humor. Humor in seiner feinsinnigen wie ausartenden Form. Dem Witz ihres Vorarlberger Vaters sei Dank, dass sie selbst vieles nicht so ernst nehme. Unbeeindruckt pendelt Roßbacher daher zwischen dem, "was man Literatur nennt, und dem, was Unterhaltung ist", weil sie nicht einsieht, "warum Literatur nicht auch unterhalten soll".

Mit Mon Chéri ist sie nun für den Österreichischen Buchpreis nominiert, der ihr jüngst zuerkannte Bodensee-Literaturpreis ist die erste literarische Auszeichnung überhaupt. Kaum zu glauben. In diesem Roman hat Roßbacher die Perspektive gewechselt und erstmals aus einer rein weiblichen geschrieben. Es flutschte dann aber. Bis dahin habe ihr Interesse den männlichen Erzählstimmen und Figuren gegolten, was wohl auch an ihrer einseitigen Lesebiografie liege. Das solle sich ändern.

Anderes Familienkonzept

Im Vorgängerroman Ich war Diener im Hause Hobbs (2018), eine Wucht übrigens, muss sich der Ich-Erzähler konzentrieren, die Fäden zusammenzuhalten, sich nicht in einem Wust an Gedanken und Erinnerungen zu verzetteln. Oftmals zweifelt er an seinem Gedächtnis. Das Buch handelt von allzu menschlichen Tragödien, vom Scheitern und Verschweigen, aber auch vom stilvollen Weitermachen. Roßbachers Themen, die sich auch so ähnlich in Mon Chéri finden. Mehr noch: Es geht darin ums Weiterleben – wo, mit wem, wie vielen und wie genau. Sei es das Denken von Alternativen, in dem Fall eines anderen Konzepts von Familie, oder die Bedeutung wahrer Freundschaft. Muss ja nicht immer gleich Liebe sein. Das bedingt auch den Wunsch der Figuren nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Der Reiz der narrativen Ich-Perspektive ist offensichtlich. Was sie alles gleichzeitig kann – einengen, einen "großen Spielraum" eröffnen, sich mit der Leserschaft verbünden und dieses Vertrauen durch Unzuverlässigkeit erschüttern. Charly Benz, das Ich des in Berlin spielenden Romans, erschüttert gleich vorweg im Prolog. Keinen Sex, keine Träume, heißt es da – noch im Prolog wird geträumt. Ein Spiel mit Fiktion und Wahrheitswerten, wie oft bei Roßbacher. Auch ihr Faible für die Namensgebung gesteht sie, besonders die der banalen sei schwierig.

Schelmin mit dem Herz auf der Zunge

In 133 Kapiteln auf 500 Seiten blättert Charly einer Schelmin gleich ihr Leben auf, genüsslich, mit dem Herz auf der Zunge. Plappernd und schwätzend ist von ihr alles Wissenswerte, Nebensächliche, Alltagsbanale und Peinliche aus 43 Lebensjahren zu erfahren. Diese Frau ist ein Unikum. Aktuell hat sie alles, zum Beispiel einen dämlichen Beruf, alles außer Gesellschaft. Charly "singelte durchs Leben".

Sie ist nicht hip, nicht hübsch, nicht ernährungsbewusst und raucht. Ist die "fiese Karikatur einer Suffragette" und hat "ein Aussehen wie eine demolierte Giraffe mit schlechter Konstitution". Statt der üblichen Selbstverschönerung und -überhöhung nur Selbstdemolierung. Sprachlich versiert und mühelos, mit Ironie und Übertreibungslust entwickelt Roßbacher einen Charakter, der sich konventionellen Lebensentwürfen widersetzt. Wer sich so hässlich macht und rumjammert, dem kann es nicht noch schlechter gehen. Charly hat sich im Mangel eingerichtet, bleibt als Außenseiterin auf ihre Weise frei. Dass Roßbachers Figuren dabei immer ein wenig neben der Spur sind, ist Voraussetzung für ihr Auftreten. Und das kann sehr, sehr witzig sein.

Verena Roßbacher, "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen". € 24,70 / 512 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
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Zeit zur Entfaltung

Die Autorin neigt definitiv nicht zur inhaltlichen Straffung, im Gegenteil, sie schenkt ihren Protagonisten Üppigkeit und Zeit zur Entfaltung. Ein unverkennbares Merkmal ihres Stils. In Rückblenden wird Charly mit ihrer Biografie der Höhepunkte und Tiefschläge konfrontiert – vom abwesenden Vater bis zu desaströsen Beziehungen. Was mit ihr los ist, bleibt nicht verborgen. Weder ihrer Schwester noch dem sechzigjährigen Herbert Schabowski. Die esoterische Sybille zwangsbeglückt Charly mit einer Familienaufstellung, die einiges ins Beben bringt.

Mit Schabowski, Typ Beamter, führt Charly hingegen eine Art Mon-Chéri-Beziehung, er ist "so etwas wie ein Freund" und Spezialist. Vielleicht auch Vaterersatz. Wöchentlich schnabulieren die beiden altmodische Naschereien, trinken dazu Filterkaffee. Schabowski kümmert sich um Charlys Postangst, er öffnet und bearbeitet ihre Briefe. Und er hört zu. Bald weiß er alles über seine Klientin, andersrum wird er in ihr seine Gefährtin auf seinem Angstweg finden. Diese Postsitzungen werden regelrecht zelebriert, man bleibt höflich kokett, bei "Frau" und "Herr" und "Sie". Hier spiegeln sich zwei. Die "professionelle Distanz" bedeutet für die Autorin einmal mehr einen "Spielraum an Erfahrungen miteinander".

Ängste annehmen und loslassen

Kuvertierte Briefe auf Papier wirken wie ein Anachronismus im digitalen Zeitalter. Wo massiv geschürte gesellschaftliche Ängste um sich greifen und auch Charly in Panik versetzen, Stichwort Klimakatastrophe, erscheint die Postangst wie das i-Tüpfelchen all der Auswüchse. Von Ängsten gilt es sich zu lösen, sie aber auch individuell anzunehmen und zu handeln. Dies wird die beiden nach Schabowskis tödlicher Diagnose in das bunte Feld der Alternativmedizin und spiritueller Praktiken führen. Wo es nicht überall Lebensbejahung zu gewinnen gibt. Ein Feld, dem Roßbacher ebenfalls mit spielerischem Interesse und ergebnisoffen begegnet.

Nach hunderten Seiten findet sich schließlich ein Trüppchen samt Schabowski und Charly – inzwischen schwanger von drei möglichen Mon Chéri – in Bad Gastein ein. Diesem "unbeschriebenen", verblichenen Ort, der am Auferstehen ist. Mit dem leerstehenden Hotel Mirabell eröffnet sich ein letzter tröstlicher Möglichkeitsraum. Einer parallel für das schönste Sterben und die herzzerreißendste Geburt in der Literatur. (Senta Wagner, 13.11.2022)