Schuberth verbindet Theorie mit Witz und Finesse.

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Ginge es nach jenen, die Richard Schuberth in seiner Anthologie über Identitätspolitik (IP) Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung kritisiert, hätte Émile Zola nicht seine sozialkritischen Romane verfassen dürfen. Denn wie kommt der Sohn eines austro-italienischen Ingenieurs und Offiziers dazu, über das Elend des nordfranzösischen Proletariats zu schreiben? In weiterer Folge hätte auch die aus dem Bildungsbürgertum stammende Käthe Leichter, geprägt durch die Lektüre Zolas, nicht Sozialistin werden dürfen. Wenn Bürgerliche sich für Proletarier einsetzen, sich in sie hineinversetzen oder gar eine soziale Revolution fordern, ist das für manche Verfechter der IP genauso eine zu bekämpfende "kulturelle Aneignung", wie wenn Weiße Dreadlocks tragen, eine US-Amerikanerin Romane über Mexikaner und ein Apache dalmatinische Kochbücher schreibt.

Stammeskämpfe

Ob die Vorreiter der IP im identitären und rechtsextremen Eck oder die zwischen Ohnmacht und Allmachtsfantasien wankenden Mittelstandskinder in postkolonialen Zellen an westlichen Unis, sie alle streben nicht jene Revolution an, die das Erniedrigen und Verknechten der Menschen beenden will. Vielmehr assistieren sie, die lieber Klassenkämpfe in Stammeskämpfe umwandeln wollen, mit vereinten Kräften an der "neoliberalen Segregation von Menschen in Gruppen (...), damit diese nicht gemeinsam nach oben, sondern in tausende Identitäts-Gangs aufeinander und runtertreten", so Schuberth in seiner Ö1-Radioreihe Lord Nylons Schlüsseldienst.

Schlüsseldienst ist meines Erachtens eine gute Umschreibung für Schuberths IP-Anthologie. Wenn nicht mehr die Überwindung inhumaner Verhältnisse, sondern nur noch deren Diversifizierung angestrebt wird, dann entstehen ideologische Darkrooms, geschützt und verriegelt durch Türen aus Theorie und Meinung, die zu knacken nicht einfach sind. Denn so manichäisch stellt sich die Sache laut Schuberth nicht dar.

Kräftige Attacken und Antiaufklärung

Richard Schuberth, "Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung. Das identitätspolitische Lesebuch". € 21,– / 300 Seiten. Drava, Klagenfurt 2022.
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Der Autor arbeitet ebenfalls die emanzipatorische Seite der IP heraus. Diese beginnt dort, wo Opfer von Diskriminierung und Verfolgung sich neu definieren, um überkommene und menschenverachtende Stereotype und Rollenzuschreibungen zu überwinden, und dort, wo sie den politischen Kampf gegen das Inhumane aufnehmen, seien es die Frauen, Angehörige von Minderheiten oder LGBTQI+. Die sich als liberal verstehenden Kritiker der IP übersehen laut Schuberth nicht nur diesen Aspekt, sie legen in ihrer Ablehnung der IP eine Arroganz an den Tag, die wiederum durchaus als identitätsstiftend für ihren eigenen Meinungselite-Clan zu bezeichnen ist.

Richard Schuberths Buch ermöglicht, die oft hermetisch geführten Diskussionen rund um IP zu entschlüsseln. Dabei legt er jene Aspekte der IP frei, die seine kräftigen Attacken verdienen, um zugleich jene zu schützen, die hilfreich für das "gemeinsam nach oben kommen" einsetzbar sind. Damit stellt er sich einer um sich greifenden Antiaufklärung entgegen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Widersprüche in unserer Gesellschaft nicht verstehen will, sondern vielmehr verleugnet.

Neue Blüte

Wenn der Surrealist André Breton den Begriff "Schwarzen Humor" geprägt hat, dann hat Richard Schuberth diesem zu einer neuen Blüte verholfen. Beweis dafür sind Schuberths Collagen und Zeichnungen für den Augustin, die dankenswerterweise Eingang in die Anthologie fanden. Zerstörerische, teils mörderische Geisteshaltungen und Entwicklungen werden in diesen Miniaturen entblößt und dermaßen auf die Spitze getrieben, dass einem das Schaudern kommt. Doch fördert dieses Schaudern nicht Hilflosigkeit, sondern, wie es der schwarze Humor verlangt: Denken, Kritik, Erkenntnis.

Diskursverkleisterungen

Richard Schuberth stellt nicht nur sein Können als Radiomacher und Künstler unter Beweis, sondern in erster Linie jenes als Essayist und als Kenner des akademischen Diskurses. Dabei konnten weder Ethnologie- noch Philosophieseminare seinem einzigartigen, satirischen und poetischen Schreiben etwas anhaben. Er zeigt in seinen Beiträgen aus drei Jahrzehnten, dass auch ernst- und gewissenhafte Analyse, Theorie, Kritik mit Witz und Finesse vereinbar sind.

Dabei gelingt es ihm mit eindrucksvoller Prägnanz, die "permanenten Diskursverkleisterungen zu lokalisieren und aufzulösen". (Alexander Emanuely, 12.11.2022)