Letzte Relikte der Anti-Corona-Maßnahmen: Kontrolle der Maskenpflicht in der Wiener U-Bahn.

Foto: Regine Hendrich

Das Desaster stellte sich gleich doppelt ein: Zweimal hat die Bundesregierung die konsequente Vorbereitung auf herbstliche Corona-Wellen verabsäumt – ebenso oft bekam die Nation eine bittere Rechnung präsentiert. Lockdowns und Leid in den ersten beiden Pandemiejahren gehen zu einem bedeutenden Teil auf das Konto der türkis-grünen Koalition inklusive der Mitzauderer aus der Landespolitik.

Entsprechend viel Misstrauen schlug der Regierung im dritten Jahr entgegen. Experten und Kommentatoren übten Kritik, als ÖVP und Grüne für Anfang März eine Generalöffnung verordneten – und bekamen erst einmal recht. Prompt schnellten die Todeszahlen über das gewöhnliche Maß hinaus, mit Covid als einziger Erklärung. Das überhastete Aufsperren hatte einen hohen Preis.

Doch seither hat sich die Geschichte gedreht. Nun ist es die Regierung, die für sich reklamieren kann, recht behalten zu haben. Hartnäckig hat Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) den Kurs des Laufenlassens, der die Durchlöcherung der Quarantäneregeln ebenso beinhaltet wie die Demontage des Milliarden Euro teuren Testregimes, gegen Rufe nach Verschärfungen verteidigt. Von den Entwicklungen seit dem Frühjahr darf er sich bestätigt fühlen.

Bedrohlich wirkten die Prognosen, die immer wieder die Öffentlichkeit aufschreckten. Eingetreten sind sie nicht. Statt der bis zu 70.000 Infektionen pro Tag, wie sie die Krisenkommission Gecko erwartete, erreichten die Peaks in der zweiten Jahreshälfte nicht einmal 20.000 Fälle. Angesichts der immer spärlicheren Tests gibt es mit Sicherheit eine hohe Dunkelziffer, doch auch die ist kein Drama. Denn im Gegensatz zu früheren Wellen gerieten die Spitäler nie in die Gefahr der Überlastung.

Auch ein anderer Indikator spricht für die lockere Linie. Zwar starben sowohl im Sommer als auch nun im Herbst über einen bestimmten Zeitraum mehr Menschen als in "normalen" Zeiten zu erwarten. In beiden Fällen spielen Covid-Infektionen aber nur eine untergeordnete Rolle.

Jeder Tote ist einer zu viel, lässt sich entgegenhalten. Doch abgesehen von dem Umstand, dass überproportional viele Menschen schwer erkranken, die das Impfangebot nicht angenommen haben: Welche Optionen hat die Regierung? Beschränkungen des sozialen Lebens senken die Infektionsraten, schlagen sich aber auf die Wirtschaft und – in psychischer Form – ebenfalls auf die Gesundheit nieder. In der aktuellen Lage wäre dies unverhältnismäßig – zumal von der Impfung bis zu Medikamenten für Risikopatienten bessere Instrumente zur Verhinderung schwerer Verläufe zur Verfügung stehen als früher.

Bleibt eine allgemeine Maskenpflicht, die Befürwortern als simple, aber wirksame Maßnahme gilt. Ganz so unkompliziert ist die Sache jedoch nicht. Auch wenn es schwer verständlich ist: Viele Menschen empfinden das Stück Stoff vor dem Gesicht offenbar auch dann als Gräuel, wenn es nur in Geschäften oder Öffis getragen wird. Kommt die Pflicht ohne allgemein nachvollziehbare Argumentation, droht der Effekt in Ignoranz zu verpuffen. Das spricht dafür, dass die Koalition sich dieses Atout für wirklich heikle Phasen aufspart.

Für eine Bilanz ist es vor Beginn des Winters zu früh, Unwägbarkeiten – wie möglicherweise schwerwiegende Doppelinfektionen mit Corona und Influenza ("Flurona") – können die Lage rasch drehen. Doch vorerst hat es die Regierung geschafft, in der Chronik der pandemiepolitischen Fehlkalkulationen kein neues Kapitel zu eröffnen. (Gerald John, 11.11.2022)