Der Baum vom Wald ins Wohnzimmer: Gerechtfertigte Freude oder einfach nur Irrsinn?

Foto: APA/Helmut Fohringer

PRO: Hoch lebe die schöne Leich’

von Stefanie Rachbauer

Weihnachten ist Ausnahmezustand. In der anstrengenden Ausprägung heißt das: Stress wegen der Geschenke, nervenraubende Diskussionen, wo gefeiert wird, und endlose Debatten darüber, wer was mitbringt. In der angenehmen Spielart bedeutet der Ausnahmezustand Weihnachten vor allem eines: Dinge, die man sich im restlichen Jahr kaum bis nicht gönnt, sind plötzlich erlaubt. Wie die Extraportion Kekse. Und die zwei, drei arbeitsfreien Tage mehr. Oder auch die tote Tanne fürs Wohnzimmer.

Rational betrachtet sind die geschmückten Baumleichen freilich komplett unnötig. Doch Weihnachten zeichnet sich – Stichwort Ausnahmezustand – dadurch aus, die Vernunft zumindest einmal im Jahr abschalten zu dürfen. So wie damals, als man noch ans Christkind glaubte. Genau das ist das Schöne an dieser Zeit. Dazu kommt: Annehmbare, praktikable Alternativen zu den abgesägten Exemplaren gibt es nicht. Plastikbäume sind ökologisch nicht minder fragwürdig wie ihre natürlichen Pendants – und schlicht hässlich. Die (temperatur)empfindlichen Bäume im Topf wiederum taugen lediglich für Botanik-Fachleute, die im besten Fall einen Wintergarten (für die Kaufvariante) oder viel Geld (für Mietversion) haben.

Bleibt also nur die schöne Baumleich’ – bevorzugt in Bioqualität. Zumindest die Freude, die sie auslöst, ist nachhaltig. Indem sie ein bisschen hilft, das restliche Jahr über vernünftige Dinge zu tun und Verzicht leichter auszuhalten. (Stefanie Rachbauer, 14.11.2022)

KONTRA: Lasst die Bäume in Frieden

von Guido Gluschitsch

Im Oktober fürchteten wir, Bolsonaro könnte die Wahlen in Brasilien gewinnen und die Abholzung des Regenwaldes in dem Tempo weitergehen. Im November roden wir selbst Bäume auf über 2200 Hektar. Wir führen sie spazieren, verpacken sie in Plastik, führen sie noch einmal spazieren, um sie endlich im Dezember vollgehängt mit Plastikmüll aus China ins Wohnzimmer stellen zu können.

Aus ökologischer Sicht ist dieser Brauch, jedes Jahr 2,8 Millionen Christbäume zu roden und in heimische Wohnzimmer, auf Rathausplätze und in Konsumtempel zu stellen, ein Irrsinn. Die allermeisten Christbaumplantagen sind das ganze Jahr über keine idyllischen Wäldchen, sondern ökologisch wertlos – überdüngte und gespritzte Monokulturen. Und wofür das alles? "Wegen der leuchtenden Kinderaugen", heißt es dann. Die Kinder werden noch ganz anders schauen, wenn sie all unsere Umweltsünden demnächst ausbaden müssen.

Der Christbaum ist da eines der geringsten Übel – aber ein deutliches Zeichen, wie wir unsere Verantwortung für eine bessere Umwelt selbst dort wegschieben, wo es nicht wehtun würde – wegen drei Minuten Kinderaugenglänzen.

Wie unmöglich eine vernünftige Diskussion bei dem Thema ist, wird sich am Heiligen Abend zeigen, wenn selbst die größten Christbaumverweigerer vor dem grünen Totholz stehen müssen, weil die Familie das so will. Ja keine Widerrede! Erst nach dem Essen stimmen dann alle gemeinsam in den Chor ein, der frohlockt: "Aber in Brasilien, der Regenwald!" (Guido Gluschitsch, 14.11.2022)