Ihretwegen gebrauchten ehrbare Hausfrauen den Besenstiel als Hieb- und Stichwaffe: Motörhead mit Lemmy (li.), aufgenommen etwa 1980.

Foto: GettyImages / Fin Costello

Der November in Wien-Umgebung ist ein Schmierendarsteller: Er wirft neuerdings gläsernes Licht auf Äcker und Brachen, um von seiner zutiefst deprimierenden Natur abzulenken. Um seine Eskapaden zu ertragen, bedarf es des Trostes durch Musik. Vor gar nicht langer Zeit war es ein Einfaches, seinen Musikhunger nach alter Väter Sitte in Wiens Innenstadt zu stillen. Man betrat das Plattengeschäft seiner Wahl, führte mit der Verkaufskraft des Vertrauens ein eingehendes Gespräch – und verließ den Tempel Polyhymnias mit Beethovens 7. unterm Arm, dirigiert von Schuricht. Oder, wenn es dumm gelaufen war, von von Karajan.

Etwas Ähnliches kann einem heute nicht passieren: einfach, weil es (fast) keine Plattenläden mehr gibt. In den Aufbruchsjahren der Ära Kreisky schlug mir, einem pubertierenden Babyboomer, das Herz bis zum Hals, wenn ich eine solche Hökerstelle des Weltgeists betrat. An der Wand, über Reihen von Vinylplatten, hing das berühmte Poster, das Frank Zappa, einen Verderber der Weltjugend, beim Verrichten der Notdurft zeigt. Ich selbst brachte es mit meinen 119 Schillingen nur zu "Love Gun" von Kiss. Aber immerhin, mir war vorfrühlingshaft zumute. Mir schwante, dass Kiss mit ihrer Liebeskanone nicht allein auf Tontauben schossen.

Meine Mutter schwärmte insgeheim für Tom Jones. Langhaarigen begegnete sie mit dem Misstrauen derer, die den Suchtmitteln aus Prinzip abhold sind. "Wir stellen uns die Wohnung bestimmt nicht mit deppaten Rockplatten voll!"

Double Live Gonzo!

Ihr Appell verstummte fruchtlos. Ich trug mein Taschengeld zu den Plattenhändlern: Ich hatte festgestellt, dass Live-Doppelalben nur geringfügig teurer waren als einfache Vinylplatten. Es gab "Alive I" von Kiss, "Double Live Gonzo" von Ted Nugent, "Live & Dangerous" von Thin Lizzy. Mein Favorit aber wurde "No Sleep 'til Hammersmith" von Motörhead. Gegenüber der Überzeugungskraft dieser Weltuntergangsklänge sind Einwände zwecklos. Allmählich erschlaffte der Besenstiel der Nachbarin, der anfangs protestierend gegen die Wand hämmerte. Meine Mutter tat überhaupt, als ob sie nichts vernommen hätte. Die Tonalität muss für sie alle verheerend gewesen. (Ronald Pohl, 16.11.2022)