Nicht wenige Menschen in Europa haben die Nacht auf Mittwoch vermutlich unruhiger verbracht als gewohnt. Die Nachrichten von einem Raketeneinschlag mit zwei Toten als Folge in einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine haben uns schlagartig aufgezeigt, wie leicht der russische Angriffskrieg auf ein Mitgliedsland von EU und Nato überschwappen könnte. Und sei es nur durch "Zufall", etwa in Form einer Irrläuferrakete, die bei den Kampfhandlungen ihr eigentliches Ziel auf ukrainischem Boden verfehlt hat.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist als umsichtiger Troubleshooter bekannt.
Foto: AP Photo/Olivier Matthys

Ein solches Szenario ist eine Horrorvorstellung. Dieser Ernstfall wird seit dem Beginn des Krieges befürchtet. Aber niemand will oder kann so richtig glauben, dass so etwas wirklich passieren könnte.

Erste Informationen aus der polnischen Regierung, wonach es sich um "eine russische Rakete" gehandelt haben könnte, steigerten die Nervosität zusätzlich. Diese Annahme wurde – man muss sagen: zum Glück – nur wenige Stunden später dementiert: von Joe Biden im fernen Bali am Rande des G20-Gipfels, nicht von einem europäischen Regierungschef.

Schutzlose Europäer

Der US-Präsident erklärte, dass der Einschlag sehr wahrscheinlich von einer ukrainischen Abwehrrakete stammt. Die russische Armee hatte im Grenzgebiet Infrastruktureinrichtungen bombardiert, aber "mindestens 35 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt", wie auch der Kreml einräumte. Wie schon zu Kriegsbeginn, den Biden den Europäern im Februar relativ genau vorausgesagt hatte, waren es also wieder die militärischen Dienste der Amerikaner, die für Aufklärung sorgten. Ohne sie wären die Europäer schutzlos.

Nach einem Krisentreffen der Nato Mittwochvormittag in Brüssel konnte dann definitiv Entwarnung gegeben werden: Es hat sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um einen gezielten Raketenangriff Russlands auf Polen gehandelt. Die ganze Sache muss freilich noch genauer untersucht werden.

Aber allein die denkbare und sichtbar gewordene Möglichkeit, dass Wladimir Putin Raketen auf das Territorium der Europäischen Union und/oder des transatlantischen Bündnisses abfeuern könnte, hat die Politik dies- und jenseits des Atlantiks aufgewühlt: Man traut dem russischen Präsidenten inzwischen alles zu. Er ist ein unberechenbarer, eiskalter Despot, dem jeglicher Korrekturmechanismus fehlt, der Kriegsverbrechen ohne mit der Wimper zu zucken einkalkuliert. Er hat kein demokratisches Parlament, keine Zivilgesellschaft, keine freien Medien in Russland, die ihn stoppen könnten.

Gratwanderung zwischen Krieg und Frieden

Kein Wunder also, dass die Europäer und ihre Nato-Partner sich Dienstagnacht auf einer Gratwanderung zwischen Krieg und Frieden wähnten. Einen direkten Angriff auf ein Bündnisland könnten weder Nato noch EU einfach so untätig hinnehmen. Sie müssten reagieren. Es wäre der erste Bündnisfall in Europa gewesen, sowohl in der Nato als auch in der EU. Die Nato hat die Beistandspflicht erst ein Mal, nach den Terrorangriffen in den USA im September 2001, ausgelöst und einstimmig beschlossen.

Dieses Thema wird auf der Tagesordnung bleiben, ob es uns gefällt oder nicht. Und jedes einzelne Land in Europa wird sich schon jetzt genau überlegen müssen, wie es sich im Ernstfall verhält – auch Österreich, das sich zwar neutral wähnt, aber als EU-Mitglied zur Beistandspflicht gemäß Artikel 42 EU-Vertrag stehen muss. Die Europäische Union ist von sich aus nicht kriegsfähig, trotz aller Beteuerungen einer eigenständigen Militärpolitik.

Umso beruhigender ist der daher der Umstand, wie professionell die Regierungen und Stäbe der transatlantischen Allianz auf den Vorfall reagiert haben, viele EU-Staaten darunter: ruhig, nach genau festgelegten Abläufen und Regeln, die in den Verträgen klar festgeschrieben sind.

In erster Linie ein Verteidigungsbündnis

Auch wenn Verschwörungstheoretiker, die die Nato für ein gefährliches kriegstreiberisches Vehikel halten, es oft nicht wahrhaben wollen: Dass sie nicht von Militärs, sondern von demokratisch gewählten Politikern geführt wird, zeigt gerade der Krisenfall in Polen. Die oberste Leitlinie der Allianz ist Besonnenheit. Und sie ist in erster Linie ein Verteidigungsbündnis von Staaten, die für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie auf Basis der UN-Charta eintreten, kein Angriffsbündnis, wie manche glauben.

Daher fiel die gemeinsame Reaktion beim Krisentreffen im Nato-Hauptquartier, geführt vom Generalsekretär und früheren norwegischen Premierminister Jens Stoltenberg, auch entsprechend klar und gleichzeitig moderat aus. Das Bündnis wird seine militärischen Fähigkeiten an den Außengrenzen neuerlich stärken, die Mitgliedsstaaten werden die Ukraine bilateral noch mehr unterstützen. Sie wird den Raketeneinschlag in Polen genau untersuchen und das Ergebnis auch öffentlich machen. Aber von der Kriegstreiberei Putins wird sich die Allianz nicht treiben lassen. Ein beruhigender Gedanke, der uns besser schlafen lässt. (Thomas Mayer, 16.11.2022)