Langer Weg zu einem befriedigenden Pflegesystem: Österreich ist kein Traumland zum Altwerden.

Foto: Christian Fischer

Sigrid Pilz sieht ihren Lebensabend nicht am Basteltisch. Wenn sie einmal alt sei, wolle sie zu Ostern sicher keine Eier aus buntem Papier ausschneiden, sagt sie: "Und ich habe auch keine Lust, dümmliche Lieder zu singen."

Wovor ihr da graut, hat Pilz oft genug miterlebt. In zehn Jahren als Pfleganwältin der Stadt Wien hat sie viele Heime besucht – und sich mitunter gefragt, ob sie nicht in einem Kindergarten gelandet ist. Die Infantilisierung und Respektlosigkeit, die älteren Menschen mitunter entgegenschlage, gehöre bekämpft: "Auch wenn ich Pflege brauche, will ich in meinem intellektuellen Kontext abgeholt werden."

Die im Sommer aus ihrem Amt geschiedene 64-Jährige spricht für eine rasant wachsende Gruppe. Weil es immer mehr und immer ältere Senioren gibt, schafft es der Staat schon jetzt nur mit Ach und Krach, ausreichend Pflege anzubieten. Dabei sei die Situation noch relativ komfortabel, merkt Ulrike Famira-Mühlberger vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) an. Der große Schwung an Nachfrage komme in zehn, fünfzehn Jahren, wenn die geburtenstarke Babyboomgeneration ins gewisse Alter komme: "Darauf müssen wir uns jetzt einstellen."

Siedlungen, in denen man alt werden kann

Aber wie? Die Menschen dafür wappnen, möglichst lange zu Hause weiterleben zu können: Diese Maxime ist weitgehend unumstritten. All die alten Menschen ins Heim zu stecken sei nicht nur wegen der schieren Menge unmöglich, sagt Pilz, sondern widerspreche auch den Wünschen der Betroffenen und der Vernunft. Jede Tätigkeit, die jemandem unnötigerweise abgenommen wird, fresse Kompetenzen: "Wer sich auf wackeligen Beinen in der Früh den Kaffee selber machen muss, bleibt wach."

Damit das aber möglich sei, müssten sich die Lebenswelten radikal wandeln. Pilz denkt da etwa an die großen Wohnsiedlungen, wie es sie in den Wiener Außenbezirken gibt. Einst als Schlafstätten für Familien konzipiert, brauche es einen Umbau für die immer älteren Bewohner – darunter viele Migranten und ärmere Leute, "die sich nicht einfach eine 24-Stunden-Betreuung samt Putzfrau leisten können".

Das reiche von scheinbar Banalem, wie sicheren Stellplätzen für Rollatoren, bis zu Tageszentren, die etwa in verwaiste Sektionslokale der SPÖ Einzug halten könnten. Wärme und Essen, Gesellschaft und kulturelles Angebot, psychologische Betreuung und pflegerische Leistungen sollten die betagten Anrainer dort finden, schwebt Pilz vor – oder auch einfach nur Hilfe, wenn sich der Stützstrumpf nicht nach oben ziehen lässt.

Billige Lösung mit Ablaufdatum

Doch gerade auf dem zersiedelten Land hat das Konzept Grenzen, und selbst ein perfekt adaptiertes Grätzel wird Unterstützung in den eigenen vier Wänden nicht obsolet machen. Diese bleibt in Österreich bis dato viel stärker als etwa in den nordischen Ländern an Angehörigen hängen – was zum nächsten Problem führt. Denn diese Lösung habe ein Ablaufdatum, warnt Expertin Famira-Mühlberger: Mit hohen Bildungsabschlüssen ausgestattet, würden immer mehr Frauen Berufskarrieren der Pflege zu Hause vorziehen.

Ganz ohne die Familien werde sich die riesige Herausforderung zwar nie bewältigen lassen, knüpft Arbeiterkammer-Fachmann Kurt Schalek an, doch brauche es viel mehr professionelle Unterstützung als bisher. So seien Alternativen wie eine mehrstündige Alltagsbegleitung, die pflegenden Angehörigen die Gelegenheit zum Durchschnaufen gibt, hierzulande noch sträflich unterentwickelt.

Bei der Pflege im eigentlichen Sinn sei das kaum anders. Der von Politikern laufend versprochene Ausbau der mobilen Dienste bilde sich in der Realität nicht ab, schließt Schalek aus der Statistik: Tatsächlich seien die Leistungsstunden pro Kopf innerhalb der letzten fünf Jahren vor Ausbruch der Corona-Pandemie zurückgegangen. Lediglich drei Prozent des via Pflegegeld anerkannten Stundenbedarfs werden laut AK-Schätzung von mobilen Diensten abgedeckt: "Da klafft eine riesige Lücke."

Geld hineinpumpen reicht nicht

Was das für Pflegebedürftige mitunter bedeutet, weiß Michaela Wlattnig zu berichten. Sie habe schon erlebt, dass Angehörige unter telefonischer Anleitung des Hausarztes selbst Wundversorgung improvisiert haben, weil eine mobile Pflegekraft – etwa nach einer Spitalsentlassung – nicht rechtzeitig verfügbar war, erzählt die Sprecherin der Pflege- und Patientenanwältinnen Österreichs. Die fehlende Hilfe für zu Hause zwinge Menschen in die für die Allgemeinheit teuerste Alternative, die Pflegeheime – sofern denn Plätze verfügbar sind. Mancherorts, sagt Wlattnig, sei auch das nicht mehr der Fall.

Das Vertrackte an der Situation: Die Politik kann das Problem nicht allein damit lösen, indem sie – was zweifellos nötig ist – mehr Geld ins System pumpt. Erst muss sie Frauen und Männer finden, die den Job übernehmen wollen. Doch die sind rar.

Die Belegschaften seien mitunter so ausgedünnt, dass permanent im Krisenmodus gearbeitet werde, berichtet Wlattnig. In gewissen Regionen finde Pflege nur mehr in derart reduzierter Form statt, dass sie gerade noch nicht gefährlich sei.

Arbeit muss sich mehr lohnen

Der Personalmangel facht sich somit immer weiter an. Lässt sich aus Zeitdruck nur mehr das Notwendigste erledigen, ohne zu den Klienten Beziehungen aufbauen zu können, frustriert das die mit höheren Ansprüchen ausgestatteten Fachkräfte – und verleitet sie zum Ausstieg. Ebenso unzumutbar sei es, wenn sich Pflegerinnen und Pfleger nicht auf die Dienstpläne verlassen könnten und ständig das Wochenende opfern müssten, sagt Wlattnig: Ergo müsse der Betreuungsschlüssel – Zahl der Patienten pro Arbeitskraft – dringend verbessert werden.

Wie sich die Rekrutierung ankurbeln lässt? Bessere Bezahlung ist ein Mittel, doch dieses darf sich nicht auf die Arbeit an sich beschränken. Um Menschen zum Umstieg in die Pflege zu motivieren, müsse der Staat nicht nur die Ausbildung selbst, sondern auch die Lebenshaltungskosten während dieser Zeit finanzieren, sagt Famira-Mühlberger. Ebenso essenziell sei die raschere Anerkennung von im Ausland absolvierten Ausbildungen. Mit dem im Mai präsentierten Pflegepakt habe die Regierung in all diesen Fragen einen Schritt in die richtige Richtung gemacht – aber eben nur einen ersten.

Noch lange ließe sich die Liste der Notwendigkeiten fortsetzen – sie reicht von der Vereinheitlichung der Pflegeleistungen in den Bundesländern bis zur Verbesserung von Qualität und Arbeitsbedingungen in der 24-Stunden-Betreuung, die wegen der hohen Kosten allerdings nur ein Minderheitenprogramm für etwa fünf Prozent der Pflegegeldbezieher ist.

Um das Pflegeangebot gezielt ausbauen zu können, müsse der Staat aber erst einmal wissen, in welcher Gemeinde welcher Bedarf herrscht, sagt Famira-Mühlberger. Es sei "fast nicht zu glauben", dass es da bis dato keine systematische Erhebung gebe: "Wir planen im Blindflug." (Gerald John, 14.12.2022)