Das Erbgut von 100.000 Neugeborenen soll analysiert werden, um Erbkrankheiten besser zu diagnostizieren und zu behandeln.
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Das Genom scannen lassen, um herauszufinden, ob Erbkrankheiten vorliegen: Das könnte in Zukunft zum medizinischen Standard gehören. Schon jetzt wird in Europa bei nahezu allen Neugeborenen per Bluttest festgestellt, ob gewisse Stoffwechselstörungen vorliegen und eine Behandlung nötig wäre. Gerade bei der Analyse und Speicherung von Genomdaten stehen auch ethische Bedenken im Raum. Die britische Regierung kündigte nun ein großangelegtes Forschungsprogramm an: Um Erbkrankheiten besser diagnostizieren und behandeln zu können, sollen die Genome von 100.000 Neugeborenen untersucht werden.

Das Programm werde mit 105 Millionen Pfund – umgerechnet 122 Millionen Euro – finanziert und sei die größte derartige Studie weltweit, teilten die britischen Gesundheitsbehörden am Dienstag mit. Untersucht wird das Erbgut auf rund 200 Erbkrankheiten, mit denen in Großbritannien jährlich rund 3.000 Kinder zur Welt kommen.

Guthrie-Test und andere Neugeborenen-Screenings

"Wir werden nur nach Krankheiten suchen, die behandelbar sind und in der frühen Kindheit auftreten", erklärte Rich Scott vom staatlichen Erbforschungsunternehmen Genomics England. Bei den Erbgutanalysen, die Ende des kommenden Jahres beginnen und zwei Jahre lang vorgenommen werden sollen, geht es auch um die Frage, ob es künftig routinemäßig landesweite Genomsequenzierungen geben soll, um von Erbkrankheiten betroffenen Kindern frühzeitig helfen zu können.

Bereits jetzt werden bei Neugeborenen Screenings auf bestimmte Krankheiten routinemäßig durchgeführt – nach der Geburt, teilweise aber schon davor, während der Schwangerschaft. Dazu wird Blut abgenommen und etwa auf ein Zuviel oder Zuwenig bestimmter Stoffwechselprodukte analysiert. Schon mit dem Guthrie-Test, der 1963 entwickelt wurde und noch heute in vielen Ländern zum Einsatz kommt, ließ sich prüfen, ob ein Baby erhöhte Phenylalanin- und Galaktose-Werte hat. Dies wäre ein Indikator für Phenylketonurie und Galaktosämie, bei denen der Stoffwechsel gestört ist. Genetische Daten sind dafür nicht notwendig.

Internationale Unterschiede

Je nachdem, in welchem Land man sich befindet, werden unterschiedlich viele Krankheiten bei solchen Untersuchungen abgefragt. In Großbritannien sind dies neun Erkrankungen, in Österreich 13, in Deutschland und anderen europäischen Ländern 15 und mehr. "Diese Technologie ist vielleicht nicht so innovativ oder modern wie die Sequenzierung des gesamten Genoms, aber sie kann das Leben von Babys und ihren Familien genauso verbessern, wenn Tests für eine bestimmte seltene Krankheit verfügbar sind", sagt Louise Fish von Genetic Alliance UK.

Aus diesem Grund, zu dem etliche weitere hinzukommen, stoßen das Großprojekt und seine Finanzierung durchaus auch auf Kritik. Fachleute aus dem Bereich der Genetik, die das britische Gesundheitssystem (National Health Service, NHS) kennen, fürchten, dass der Zeitpunkt schwierig sei. Immerhin kämpft man derzeit mit einer Überlastungssituation, für die auch in anderen Bereichen finanzielle Förderung dringend notwendig wäre.

Medizinische Kapazitäten und IT-Probleme

Es sei nicht möglich, lediglich in die Genomforschung zu investieren, sagt Fish. "Wir müssen auch die gleiche Menge an Zeit, Energie, Kapazität und Geld in die klinischen Genetikdienste des NHS investieren – einschließlich des klinischen Personals, der IT-Systeme und der administrativen Unterstützung –, wenn die Vorteile dieser Forschung die Babys und ihre Familien rechtzeitig erreichen sollen, um ihnen zu helfen, fundierte Entscheidungen über ihre Behandlung und Pflege zu treffen."

Der Verweis auf IT-Probleme deutet eine andere Baustelle an, die sich bereits bei einem anderen Genom-Großprojekt zeigte. Hierfür sollten 500.000 Patientinnen- und Patientengenome sequenziert werden. Wie die "Times" berichtet, war das IT-System derart dysfunktional, dass mitunter außerplanmäßig auf Papierformulare zurückgegriffen werden musste.

Dies zeige auf, "dass der neue Dienst für Genommedizin bei weitem nicht das medizinische Flaggschiff ist, als das er beworben wurde", sagt Anneke Lucassen, Genommedizinerin und Leiterin des Zentrums für personalisierte Medizin an der Universität Oxford. "Die Aufnahme von 100.000 Neugeborenen in dieses System wird die Bearbeitungszeiten für diejenigen, die auf das Ende ihrer 'diagnostischen Odyssee' warten, nicht verbessern."

Hohe Erwartungen

Außerdem stellen sich der Medizinerin weitere Fragen, auf die auch Fachleute aus dem Bereich der Medizinethik hinweisen. Es gehe nicht nur darum, dass womöglich Ressourcen verschoben werden, was letztendlich Babys mit seltenen Erkrankungen mehr schadet als nutzt. "Sind wir auf den Grad der Unsicherheit vorbereitet, den das Genom-Screening in diesem Zusammenhang mit sich bringen würde?" Immerhin sage eine genetische Variante für sich genommen selten etwas eindeutig voraus. Deshalb seien Kontext und Interpretation durch Fachleute essenziell. Entsprechend könne man sich detailliertere Informationen erwarten, als sie derzeit möglich seien.

Zwar sind Szenarien wie im Film "Gattaca", in dem kränkliche Kinder "aussortiert" werden oder keine Chancen auf steile Karrieren haben, weit entfernt. Immerhin geht es um die bestmögliche Therapie von Babys mit Erbkrankheiten, etwa dem Biotinidasemangel. Bei dieser erblich bedingten Stoffwechselstörung kann der Körper das Vitamin Biotin nicht umwandeln, was wiederum zu schweren neurologischen und Hautproblemen führen kann. Durch die regelmäßige Einnahme von Biotin lassen sich diese Folgeschäden ohne großen Aufwand verhindern.

"Schritt ins Ungewisse" oder Revolution

Dennoch spricht Frances Flinter, emeritierte Professorin für klinische Genetik, von einem "Schritt ins Ungewisse". "Der potenzielle Nutzen besteht in einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung für mehr Babys mit genetischen Erkrankungen", sagt die Expertin, die auch Mitglied des gemeinnützigen Nuffield Council on Bioethics ist. "Die potenziellen Nachteile sind falsche oder unsichere Ergebnisse, unnötige Ängste der Eltern und ein Mangel an guter Nachsorge für Babys mit einem positiven Screening-Ergebnis."

Optimistisch ist hingegen der klinische Berater des Genom-Forschungsprogramms, David Bick. Ab der Geburt aufbewahrte Erbgutsequenzierung könne dem einzelnen Betroffenen helfen, später in seinem Leben "Leiden vorherzusagen, zu diagnostizieren oder zu behandeln". Sollte das Forschungsprogramm erfolgreich sein, will Genomics England künftig bei allen Neugeborenen im Rahmen des routinemäßigen Guthrie-Tests auch Blut für die Genomsequenzierung abnehmen.

Auch der britische Gesundheitsminister Steve Barclay ist überzeugt von dem Potenzial, "die Art, wie wir gesundheitliche Versorgung leisten, zu revolutionieren". Derweil wurden zwei weitere Forschungsprojekte angekündigt. Eines mit einem Etat von 22 Millionen Pfund dient der Sequenzierung des Erbguts von bis zu 25.000 Menschen mit nichteuropäischem Hintergrund. Diese Gruppe sei in der medizinischen Forschung "derzeit unterrepräsentiert", erklärte das Gesundheitsministerium zur Begründung. Bei einem anderen Forschungsprojekt mit einem Budget von zunächst 26 Millionen Pfund geht es um Erbgutsequenzierungen für schnellere und genauere Krebsdiagnosen. Zusammengenommen sagte die britische Regierung 175 Millionen Pfund für die Genforschung zu. (sic, APA, 13.12.2022)