Sophie (Frankie Corio) und ihr Vater Calum (Paul Mescal) beherrschen die seltene Kunst, gern miteinander nichts zu tun.

Foto: Stadtkino Filmverleih

Paul Mescals Profil vor blauem Grund.

Foto: Stadtkino Filmverleih

Charlotte Wells Debüt Aftersun ist eine jener Perlen, die Filmfestivals in ihren Programmen bergen. Nachdem der Film der schottischen Regisseurin auf dem Filmfestival in Cannes gelaufen war, überschlugen sich die Kritiken vor Begeisterung. Ein Star war geboren. Dabei wirkt Charlotte Wells, Spitzname Charli, in Interviews bedacht und zurückhaltend. Jahrgang 1987, geboren in Edinburgh, verließ sie ihre Heimat für das Studium: Zuerst ging es nach London, dann an die renommierte Tisch School of the Arts der New York University.

Nach L.A. wird es die Schottin jedoch kaum verschlagen, ihr filmischer Stil ist dem internationalen Avantgardekino zu nah: Chantal Akerman, Wong Kar-Wai, Andrea Arnold zählt sie zu ihren Inspirationen. Die Namen verraten viel über die Tradition, in die sich Wells stellt: in die des modernen Autorinnenkinos, das bis in die 1970er zurückreicht und formale und erzählerische Experimentierfreudigkeit nicht mit Unzugänglichkeit verwechselt. Mit Aftersun ist Wells denn auch das seltene Kunststück gelungen, formal verspielt, ruhig wie fesselnd zugleich zu erzählen – auch wenn man nicht immer alles ganz genau versteht.

Stroboskop und VHS

Der Beginn etwa ist rätselhaft. Stroboskopflackern in einem Club, eine Tanzende scheint im Umriss eines anderen jemanden zu erkennen. Ihren Vater? Die Erinnerung setzt ein, der Schauplatz wechselt. Ein Mann Anfang dreißig, etwa im Alter der Tänzerin, und seine elfjährige Tochter machen gemeinsam Urlaub in der Türkei. Sie nehmen an einer günstigen Pauschalreise teil. Gemeinsam mit ihren Landsmännern und -frauen unternehme sie Ausflüge, liegen am Pool, schauen sich die Animationsprogramme im Hotel an.

kinofilme

Die Tochter Sophie ist etwas frühreif und eine gute Beobachterin, ihr Vater Calum ist liebevoll, in ihm schwelt aber ein unausgesprochenes Leiden: Depression, Sucht, Lebenskrise? Seine Tochter registriert alles, teils mit einer VHS-Kamera, mit der sie ihren (vermutlich letzten?) gemeinsamen Urlaub dokumentiert. Allein navigiert sie selbstbewusst durch das Urlaubsresort, beobachtet das Flirten und Anbandeln der Teenager, spielt mit einem Gleichaltrigen Computerspiele, brät zufrieden mit Walkman am Pool in der Sonne und erlebt ihren ersten Kuss.

Gebrochene Ballermann-Nostalgie

Die Urlaubsszenerie erinnert an den etwas billigen Charme des 1990er-Ballermann-Tourismus. Gerade für die Spätachtziger-Jahrgänge dürfte der Soundtrack, insbesondere der "Macarena"-Song (inklusive Tanz), bittersüße Erinnerungen wachrufen. Doch auch "Losing my Religion" von R.E.M ist, wie bereits in Kurdwin Ayubs Sonne, prominent platziert: Hier wie dort ist ein Karaoke-Setting der emotionale Höhepunkt. Zeitgleich liegt über den strahlenden Urlaubsfarben eine angespannte, leicht bedrohliche Stimmung, getrübt, so mutmaßt man, durch die Erinnerung der nun erwachsenen Sophie und die depressiven Verstimmungen des Vaters, die auch Sophie mittlerweile kennt und die sie als Kind mit ihrer Selbstständigkeit zu überspielen versucht hat.

Eindringliche Leinwand-Debüts

Sophie ist klar autobiografisch gezeichnet, ebenso wie Calum. Auch die Regisseurin hatte junge Eltern, die sich früh scheiden ließen, die Erinnerungen an ihren Vater inspirierten den Film. Das doppelte Spiel aus Fiktion und Erinnerung funktioniert so wunderbar, weil Wells ein Talent für Atmosphären und Schauspielführung hat. Calum wird vom irischen Newcomer Paul Mescal verkörpert, der mit seinem Durchbruch in der Sally-Rooney-Miniserie Normal People unter Beweis gestellt hat, dass er die Idealbesetzung für komplexe, ihre Emotionen zurückhaltende junge Männer ist.

Dass sich hinter seiner britischen Fußballerfassade Zerbrechlichkeit und Schönheit verbergen, vermittelt sich durch die Kamera, die ausgiebig Mescals griechischem Profil huldigt. Ihm zur Seite steht Frankie Corio in ihrer ersten Rolle als elfjährige Sophie: Präsent, klug und warmherzig spielt sie das Scheidungskind, das oft für die Schwester ihres Vaters gehalten wird. Und auch bei ihr kann man bereits sagen: "A star is born." Ein zartes, warmes und kluges Leinwanddebüt. (Valerie Dirk, 15.12.2022)