Ian McEwan (74) verzahnt in "Lektionen" ein Einzelschicksal mit den Wechselfällen der jüngeren Geschichte.

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Im Alter von 14 Jahren widerfährt dem Internatsschüler Roland das größte Unglück seines Lebens. Dabei erfüllt sich für ihn auf den ersten, unbedarften Blick ein feuchter Bubentraum. Der Sohn eines britischen Armeeoffiziers wird von seiner Klavierlehrerin verführt.

Die zehn Jahre Ältere zerrt den Burschen – der sich die Zumutung nur zu gerne gefallen lässt – nicht nur in ihr Bett, sie verschlingt ihn mit Haut und Haar. Nimmt ihn von der Schule, hüllt ihn in Pyjamas, ernennt ihn zu ihrem alleinigen Besitz, zu ihrem Liebessklaven. Man schreibt das Jahr 1962. Die Kubakrise hält die Welt mit der Perspektive eines unmittelbar bevorstehenden Atomkriegs in Atem. Doch Romanautor Ian McEwan, ohnehin ein Meister der Detailskizze, evoziert mit wenigen Federstrichen die subkutane Atmosphäre eines ganzen Kontinents im Umbruch.

Die erste der titelgebenden Lektionen besteht in der Verfeinerung der Wahrnehmung. Roland Baines, Spross eines trinkfesten Armeeoffiziers mit Stationen in Libyen und Deutschland, gewahrt an der Frau, die ihn missbrauchen wird, den "schweren, süßlichen Geruch": hart "wie ein abgeschliffener Flusskiesel". Es ist der letzte Eindruck von Härte in einem zusehends "weicher" werdenden, durchlässigen Zeitalter. Von nun an schmilzt nicht nur im Vereinigten Königreich der Vorrat an Gemeinsamkeiten, von vorgegebenen Rollen und ethischen Normen, wie Margarine in der Pfanne.

Der Brite Ian McEwan war zuletzt als Satiriker im Einsatz, mit dröhnender Skepsis zum Beispiel auf den Spuren künstlicher Intelligenz (Maschinen wie ich). Es verwundert nicht weiter, dass seine besondere Abneigung dem Brexit gilt. Doch jetzt, im Reifealter des alles könnenden Autors, knetet er noch einmal den sauren Teig des Epochenstoffes. Er bewegt sein Alter Ego Roland – die Figur ist genauso alt wie er – im allergemächlichsten Tempo durch das zerfallende, sich wieder regenerierende Merry Old England.

Tasten streicheln

Baines wird Schulabbrecher, der sich als Tennislehrer und Pianist in einer Londoner Hotelbar verdingt. Dort streichelt er die Tasten, um "Mampfmucke" abzuliefern.

Das Schicksal beschert ihm, der ein unabweisbares Bedürfnis nach Behaglichkeit besitzt, eine äußerst eigenwillige Partnerin. Alissas Eltern entstammen dem Umfeld der Weißen Rose. Sie selbst unterwirft sich widerwillig Rolands sexsüchtigem Verhalten. Und doch verlässt sie über Nacht Gemahl und Kind, um fortan, aller Verpflichtungen ledig, als Großautorin "Alissa Eber-hardt" eine Art Weltkarriere zu verwirklichen: in einer Liga mit Elfriede Jelinek und Herta Müller. Letztere schnappt ihr richtiggehend den Literaturnobelpreis vor der (von à la longue tödlichem Tabakdampf geblähten) Nase weg.

McEwans gallige Satire auf einen weiblichen Literaturpopanz bildet noch den überzeugendsten Strang in einem Romanteppich, dessen Fäden allzu lose miteinander verknüpft sind. Der verlässlich alle Epochenthemen abklappert, ohne doch mehr als ein paar Gemeinplätze an sie zu verschwenden. Zu viel liegt im Argen: die gestörten Ökosysteme, "all die schönen, uns erhaltenden Zusammenhänge, denen wir, obwohl wir sie kaum verstanden, Veränderungen aufzwangen". Die Lektionen, die Roland mitgeteilt werden, enthüllen die Unübersichtlichkeit der Nachkriegswelt.

Liebevoll verzeichnet werden die mehr oder minder schmerzlichen Verluste: der Schrecken, der zusammen mit dem Gespenst der Freiheit mit höhnender Fratze an die Wand gemalt bleibt. Man wird, ebenso beiläufig wie eingehend, über Tschernobyl, Margaret Thatcher und Tony Blair in Kenntnis gesetzt. Schlauer wird man durch diese höhere Leitartikelei nicht unbedingt.

Themen setzen

Der sympathische Nobody Baines gleicht einem Flusskrebs, er wird, bei langsam steigender Temperatur, unerbittlich gargekocht. Das Wiedersehen mit seiner Kindesverführerin von einst schildert McEwan als merkwürdig unbefriedigende Gipfelkonferenz. Noch für eine formelle moralische Anklage wirkt dieser Taugewenig zu unbeteiligt, zu wohllebig und schwach. Ein Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf Lektionen festhalten: Den Preis für Gemächlichkeit zahlt man in Form von Unverbindlichkeit. 400 statt 700 Seiten wären dem Projekt etwas besser zu Gesicht gestanden. (Ronald Pohl, 16.12.2022)