Daniel Giménez Cacho (Mitte) als Alter Ego des Regisseurs Alejandro González Iñárritu in "Bardo".

Foto: Limbo Film / Netflix

Männer leben im Durchschnitt nicht so lange wie Frauen, aber sie werden statistisch gesehen in den meisten Ländern immer älter. Das bedeutet nebenbei, sie haben auch mehr Zeit für die Krisen in der Mitte des Lebens. Denn das Midlife, wie es die amerikanischen Experten nennen, dauert dann gern einmal zwanzig Jahre, zum Beispiel von 40 bis 60, denn 60 ist das neue 50, und so weiter. Ein besonderer Fall der Midlife-Krise ist die von Künstlern, denn die machen bevorzugt Kunst darüber. Zum Beispiel jetzt der mexikanische Filmemacher Alejandro González Iñárritu.

Er präsentierte in diesem Herbst beim Festival Venedig Bardo, Dauer: drei Stunden, Untertitel: Erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten.

Netflix

Im Mittelpunkt steht Silverio Gama, ein Fernsehjournalist, der schon längere Zeit in den USA lebt, nun aber nach Mexiko zurückkehrt, weil er dort einen bedeutenden Preis verliehen bekommen soll. Silverio weiß nicht so recht, wo er eigentlich hingehört. Die Kinder sind längst amerikanisiert, da hilft es auch nicht, dass der Vater in seinen Visionen von der Kolonialzeit träumt, als Mexiko von den spanischen Konquistadoren heimgesucht wurde und jene komplizierte Kultur entstand, die nun unter anderem in Silverio verkörpert ist. Ein sensibler Macho, längeres, gewelltes Haar, grauer Bart, ein attraktiver Mann nach geläufigen Kriterien, auf der Toilette aber ein kleiner Junge, dem sein Vater erscheint.

Alejandro González Iñárritu gehörte lange Zeit zu den erfolgreichsten Grenzgängern zwischen Arthouse und amerikanischem Mainstream. Fans könnten sich mindestens noch an Birdman erinnern, einen der schrägsten Filme vor sieben Jahren, ein wagemutig choreografierter Theateralbtraum mit Michael Keaton, der in einer berühmten Szene in der Unterhose auf dem Broadway zu stehen kam.

Weihnachtsoffensive

Oder The Revenant, ein starker Western mit Leonardo DiCaprio, der dort in einem Bärenkadaver übernachten musste. Oder natürlich Amores Perros, der Film, mit dem Iñárritu berühmt wurde, ein Drama der schicksalhaften Zufälle in Mexiko-Stadt.

Bardo gehört nun in die Weihnachtsoffensive von Netflix, wie Noah Baumbachs White Noise. Selbst ein vergleichsweise kleiner Film wie Die Schwimmerinnen von Sally El Hosaini gehört in diese Offensive. Oder Pinocchio von Guillermo del Toro, der in Österreich auch ins Kino kam.

Dass sich die Titel jetzt drängen, hat einen naheliegenden Grund. Wir haben seit einigen Wochen "Award Season", das heißt, dass in Amerika der Countdown zu den großen Filmpreisen begonnen hat.

Männerkrisen

Wer auf einen Oscar spekuliert, muss im alten Jahr zumindest noch einen kleinen Kinostart in einigen "Territorien" organisieren, und so hat sich inzwischen eine eigene Jahreszeit im Kino etabliert, in der Filme eines bestimmten Typs besonders stark vertreten sind.

Netflix hat sich selbst 2018 mit Roma von Alfonso Cuarón ein Exempel gesetzt, und Iñarritu schließt nun direkt daran an: eindeutig ein Künstler, ein Regisseur mit einer starken Handschrift und einem Hang zum Existenzialistischen. In Bardo lässt er mehr denn je seiner Fantasie die Zügel schießen, es gibt viele Momente, in denen Silverio sich inmitten von Menschenmassen vorfindet, dabei aber doch immer auf einer eigenen Welle bleibt.

Das Thema der Migration von Mexiko in die Vereinigten Staaten zieht sich durch und führt zu einer großen, ehrgeizigen Szene, in der Silverio sich mit der Kamera in eine Menge stürzt, die fast schon sinnbildlich das Anbranden des Globalen Südens an die Festung des Nordens erkennbar machen soll.

Goldstandard für Männerkrisen

Iñárritu ist mit seinem filmischen Apparat im Nacken von Silverio, man erkennt deutlich, dass er sich hier ein Alter Ego geschaffen hat – der Cineast ist als Reporter ganz nahe an den menschlichen Erfahrungen, an Hitze und Angst, und zugleich arbeitet er schon an deren Transzendierung, sucht er nach dem Überzeitlichen in konkreten Bildern.

Nicht von ungefähr denken viele Zuschauer bei Bardo an Fellinis Klassiker Achteinhalb, eines der großen verschlüsselten Selbstporträts des Kinos und zugleich bis heute so etwas wie der schwarz-weiße Goldstandard für Männerkrisen in der ausführlichen Mitte des Lebens.

In Venedig wurde Bardo gemischt aufgenommen. Das geht wohl nicht anders bei einem Film, der sich in so viele Richtungen zugleich bewegt, der immer wieder surreale Ausflüchte sucht und der dabei dann doch nicht die experimentelle Kühnheit von Birdman aufweist. Die Selbstbespiegelung eines Künstlers in mittleren Jahren bleibt ein schwieriges Genre, und auch wenn Iñárritu seinen Film nach Venedig noch um zwanzig Minuten gekürzt hat, ist Bardo doch bei aller Kreativität ein bisschen anstrengend.

Im Kinosaal wird man diese Ambition allerdings immer noch eher nachvollziehbar finden als daheim auf der Couch. Aber dafür war der österreichische Markt dem Streamer Netflix wohl doch nicht bedeutend genug. (Bert Rebhandl, 16.12.2022)