Eigentlich sollte es beim EU-Gipfel um anderes gehen. Kanzler Nehammer wollte aber partout über Migration reden.

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Stell dir vor, es ist EU-Gipfel, aber das Thema, über das du aus innenpolitischen Gründen unbedingt diskutieren willst, steht gar nicht auf der Tagesordnung. Vor diesem kleinen Problem standen am Donnerstag beim Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis und der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer.

Der eine wollte unbedingt Protest zum Ausdruck bringen, weil sein Land und Bulgarien im EU-Innenministerrat am Beitritt zum Schengen-Raum gehindert wurden. Österreich und die Niederlande hatten dagegen gestimmt.

Der andere, also Nehammer, wollte deshalb über Migration und Sicherung der EU-Außengrenzen reden: "Wir müssen endlich das Tabu Zäune brechen", sagte der Kanzler gleich bei seiner Ankunft. Er forderte die Verstärkung des Grenzzauns in Bulgarien mit finanziellen Mitteln der EU. Die Regierung in Sofia brauche zwei Milliarden Euro.

Auch Iohannis hatte eine Forderung: Es werde keinen Boykott gegen Österreich geben, aber die Schengen-Beitritte sollten so rasch als möglich über die Bühne gehen.

Künstliche Aufregung

Der Haken daran: Der Ständige Ratspräsident Charles Michel wollte das Thema nicht, weil es auf Ministerebene mit der EU-Kommission ohnehin weiterbehandelt werde. Er setzte es für die Zusammenkunft, die nach dem EU-Asean-Gipfel tags davor die zweite in dieser Woche ist, gar nicht auf die Tagesordnung.

Aber es fand sich eine Lücke. Im Einladungsbrief Michels taucht das Wort "Migration" in Zusammenhang mit einer "strategischen Diskussion" zu Nachbarn im Süden auf. Also wurden Zäune und Schengen am Abend angesprochen. Im Februar könnte es unter schwedischem Vorsitz einen EU-Gipfel mit Schwerpunkt Migration geben, mit der Perspektive eines Schengen-Beitritts für Rumänien und Bulgarien in der zweiten Jahreshälfte. Der niederländische Premier Marc Rutte sieht Probleme bei Menschenrechten in Bulgarien. Nebenbei wurde beschlossen, dass Bosnien-Herzegowina EU-Beitrittskandidat ist.

Den ganzen Tag über wälzten die Regierungschefs die großen Krisenthemen: Krieg in der Ukraine, Sanktionen gegen Russland, Energiekrise bzw. ein Gaspreisstützungspaket.

Polen blockiert mehrfach

Polen hatte seine Blockade gegen die Einführung einer globalen Mindeststeuer für Unternehmen relativ schnell aufgegeben. Umso hartnäckiger wehrte sich Regierungschef Mateusz Morawiecki mit den drei baltischen Staaten, dem neunten Sanktionenpaket gegen Russland zuzustimmen. Dabei soll es Verschärfungen im Bereich Elektronik, Banken und Dienstleistungen geben, aber Ausnahmen bei Nahrungs- und Düngemitteln. Polen fürchtete Umgehungen von Sanktionen, Details waren zu klären, spät am Abend einigte man sich. Michel war bemüht, die Einheit der EU-Staaten in Sachen Ukraine zu betonen.

Wie berichtet, werden die Staaten aus dem EU-Budget 18 Milliarden Euro an Zahlungshilfen leisten, damit die Ukrainer gut durch den Winter kommen. Auch Waffenlieferungen werden um zwei Milliarden aufgestockt. Die Blockaden aus Warschau hatten handfeste Gründe: Weil die Kommission Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz in Polen hat, sind 35 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds noch nicht freigemacht.

Umstritten bleibt ein Maßnahmenpaket zur Senkung der Gaspreise, ein Marktkorrekturmechanismus, über den die EU-Energieminister seit Wochen streiten. Deutschland fürchtet um die Versorgungssicherheit, wenn man den Preisdeckel zu niedrig ansetzt, was einige Südländer wollen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sagte zu, dass man eine "einvernehmliche Lösung" finden werde. Das hat der Gipfel jedenfalls für das EU-Energieministertreffen nächste Woche als Ziel formuliert, samt Maßnahmenpaket zur Beschleunigung erneuerbarer Energie.

Im Jänner präsentiert die Kommission Vorschläge, wie die EU auf das Inflationsreduktionsprogramm der USA reagiert, mit dem Investitionen von rund 369 Milliarden Dollar für klimafreundliche Technologien gefördert werden. (Thomas Mayer aus Brüssel, 15.12.2022)