Andrea Bajani hat in seinem Leben schon in den unterschiedlichsten Wohnungen gelebt.
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Der Titel sagt bereits alles. Andrea Bajanis Roman Buch der Wohnungen besteht aus einer Abfolge von Wohnungsporträts. Der Wohnungen eines Lebens, mehrerer Leben und zweier Familien, der der eigenen Kindheit und Jugend, der des Erwachsenen. Im Jahr 1968 eine Schildkrötenwohnung. 1976: Souterrainwohnung in Rom. 1983: die Wohnung unter dem Berg am Fuß der Alpen. Eine Ofenwohnung in Turin anno 1998. 2009 die Familienwohnung nahe dem Turiner Hauptbahnhof. Die Wörterwohnung, ein acht Quadratmeter messendes Zimmer, im Jahr 2010, das Schreib- und Arbeitsappartement unweit der Familienwohnung.

Schließlich eine großbürgerliche Altbauwohnung. Der Erzähler namens Ich ist erst Kleinkind, dann Student, dann frisch examinierter Hochschulabsolvent, schließlich Familienvater und Autor: "Tag für Tag packt er das Ende des Wörterseils, das er auf dem Bildschirm sieht, klammert sich daran fest und taucht ab, stemmt die nackten Füße gegen die weiße Mauer seines Monitors, bis er unten im Licht verschwindet."

Vertrackter Kunstgriff

Andrea Bajani, seit einigen Jahren Lektor eines kleineren Turiner Verlagshauses sowie Distinguished Writer in Residence an der Rice University in Houston, Texas – dort lehrt er Creative Writing –, erzählt als "Ich" in der dritten Person Singular. Dies grammatikalisch Ungewöhnliche erweist sich als sublim vertrackter Kunstgriff. Emotionale Zustände werden ferner gerückt, Beobachtungen geraten unsentimental, sind zugleich suggestiv neorealistisch. Dann wieder parodiert er einen medizinisch-therapeutischen Tonfall.

Oder er inszeniert zirzensisch ein spätabendliches Gespräch zwischen Mutter und kleiner Tochter, das, einem Luftballon ähnelnd, über einen das Zimmer trennenden Kasten hin- und herfliegt.

Mittels des proustianischen Mediums der Wohnungen entwickelt Bajani einen Familienroman, auch einen über Repression innerhalb der Familie, ein Lebensbuch, eine philosophische Meditation übers Vergehen, Verschwinden, über das Zerwohnen der Zeit. Es nimmt nicht wunder, dass dieses Buch in Italien für gleich zwei wichtige Literaturpreise nominiert wurde, für den Premio Strega und den Premio Campiello. Denn einfallsreich und imaginativ gesättigt dekliniert Bajani die unterschiedlichen Charaktere der Wohnungen durch, vom fast mönchischen Arbeitsraum über Büroräume und, auch das, die Autowohnung namens Fiat Panda bis zur "Schrankwohnung", hinter der Berge hochschießen, die wie ein schlecht gepflegtes Gebiss aussehen, "keine korrigierende Zahnspange zur Zeit ihrer Kindheit, im Oligozän".

Andrea Bajani, "Buch der Wohnungen". Übersetzt von Maja Pflug. € 24,70 / 304 Seiten. Kampa, Zürich 2022.
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Chirurgisch exakte Sprache

Dass es dabei auch literarisch anspielungsreich zugeht, zeigt er, indem er sich, in der Manier von Laurence Sternes Tristram Shandy, in der Plazenta seiner Mutter beschreibt, die in der Turiner Souterrainwohnung der Entbindung entgegenschaut. Doch auch die große Welt wird hineingeholt: der Raum, in dem 1978 der von den den Brigate Rosse entführte Ministerpräsident Aldo Moro gefangen gehalten wurde.

Insgesamt 78 kurze Kapitel sind es, Zimmerminiaturen, Lebensblitzlichter, aufeinander verweisend, mal sich erweiternd und vergrößernd, mal, in der Regel im Zusammenspiel mit einer leitmotivisch auftauchenden Schildkröte, sich kontrahierend. "Das Draußen ist ein umgekehrtes Innen, die Welt von der Seite der Nähte", heißt es in diesem Buch, das auch eine Reise ist, eine Reise durchs eigene Leben und die Lebens-Räume.

Verlust ohne Kitsch und Verklärung

Wie nicht wenige italienische Autorinnen und Autoren ist Bajani von deutschsprachigen Verlagen eher randständig wahrgenommen worden. Acht Jahre ist es her, dass sein feines Memorialbuch Erkennst du mich auf Deutsch erschien, seine Erinnerung an den engen Freund Antonio Tabucchi, den Romancier, Literaturprofessor, Übersetzer Fernando Pessoas und einen der wichtigsten Autoren der zu Kriegsende geborenen Generation. Vor Enttäuschung über sein Heimatland hatte er Mitte der 1990er-Jahre Italien verlassen und lebte seither in Portugal und Paris. Wie ohne Kitsch und Verklärung über den Verlust eines Menschen zu schreiben ist, ließ sich da lesen und entdecken.

Auch das Buch der Wohnungen ist auf jeder Seite frei von Sentimentalität, vielmehr verwendet Bajani eine chirurgisch exakte Sprache. Die er von zeitverwehter Wohnung zu Wohnungserinnerung kaleidoskopisch variiert. (Alexander Kluy, 16.12.2022)