Wo verläuft die Grenze zwischen Armutsflüchtlingen und politisch Verfolgten? Wie viel Mitgefühl kann sich ein reiches europäisches Industrieland leisten? Wie reguliert man die Zuwanderung, die zur Erhaltung des Wohlstands nötig ist?

Mit diesen Fragen schlagen sich alle Gesellschaften Westeuropas herum, keinesfalls nur Großbritannien. Für die Briten kommen zwei Faktoren hinzu. Zum einen können sie nach dem Brexit keinerlei nachbarschaftliche Solidarität mehr einfordern, so brüchig diese auch innerhalb der EU geworden ist. Wenn Frankreich sowie die anderen Anrainer der Ärmelkanalküste der Insel helfen sollen, muss dies bezahlt werden.

Zum Protest gegen die geplanten Abschiebungen nach Ruanda versammelten sich in London Demonstrierende vor dem Royal Courts of Justice.
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Zum anderen bleibt das Königreich ein Anziehungspunkt: In der Weltstadt London, aber auch anderen Großstädten sind Menschen unterschiedlichster Herkunft zu Hause, die Hunderte von Sprachen und Dialekten sprechen. Auf dem durchlässigen Arbeitsmarkt können fast alle mit einigen Brocken der Weltsprache Englisch ihr Auskommen finden. Das Fehlen jeglicher Meldepflicht trägt das Seine dazu bei; seriösen Schätzungen zufolge leben bis zu 745.000 Menschen illegal auf der Insel, knapp 400.000 davon allein in der Hauptstadt.

Eine rational handelnde Regierung würde also Personalausweise einführen, das kaputte Asylsystem auf Vordermann bringen, für rasche Verfahren und konsequente Abschiebung sorgen. Gleichzeitig könnten Armutsmigranten zeitlich begrenzte Arbeitsmöglichkeiten erhalten, schließlich gibt es Hunderttausende von offenen Stellen zu füllen.

Stattdessen setzt Rishi Sunaks Regierung auf die hochsymbolische Abschiebung junger Migranten nach Ruanda. Zwar hat der High Court das für rechtens erklärt, aber das Vorgehen bleibt unmoralisch und exorbitant teuer. Und die vielbeschworene Abschreckung? Wer im Ärmelkanal sein Leben riskiert, dürfte für dieses Argument auch künftig unzugänglich bleiben. (Sebastian Borger, 19.12.2022)