Patti Smith denkt am 9. Dezember in der Mailänder Scala über eine Zeile aus Puccinis "Tosca" nach: "Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe."

Foto: mit freundlicher Genehmigung des Patti Smith Archiv © Patti Smith

Ob die regelmäßig in Wien weilende Patti Smith schon an den Gräbern von Mozart, Thomas Bernhard, der damals berühmten Reiseschriftstellerin des frühen 19. Jahrhunderts, Ida Pfeiffer, oder jenem von Josef "Nockerl" Bratfisch stand, ist nicht bekannt. Immerhin besitzt der Letztgenannte, einst zumindest daheim weltbekannte Wienerlied-Sänger ("Auf nach Afrika!"), erhebliches romantisches wie tragödisches Potenzial. Der Leibfiaker Kronprinz Rudolfs kutschierte 1889 die Baronesse Mary Vetsera auf ihrer letzten Fahrt nach Mayerling.

Wie man in Patti Smiths wunderbarem Fototagebuch Buch der Tage nachlesen und -sehen kann, wird die US-Schriftstellerin und "Godmother of Punk" von Friedhöfen und Gräbern berühmter Kollegen und Kolleginnen allerdings magisch angezogen. Smith fotografierte schon den Grabstein der Schriftstellerin Sylvia Plath, der Philosophin Simone Weil oder jenen Albert Camus’. Dylan Thomas, Bertolt Brecht, Virginia Woolf, William Blake oder William S. Burroughs und natürlich Arthur Rimbaud sind im Buch der Tage ebenso zu finden wie selbstgeschossene oder zumindest irgendwo zusammengeklaubte Ablichtungen von anderen großen und als unsterbliche Geister umgehenden Inspirationsquellen: Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Jean-Luc Godard, Lou Reed, Vater, Mutter, Ehemann Fred "Sonic" Smith, JFK.

Geheiligt werde ihr Name

R.E.M.-Sänger Michael Stipe besitzt als einer der wenigen das große Glück, noch unter den Lebenden zu wandeln, darf aber trotzdem ins Buch. Das am 29. August zu sehende Foto des Gartens von Friedrich Schiller in Jena, in dem dieser einst mit dem "multidisziplinären Dichter" Goethe und Allrounder Alexander von Humboldt "philosophische Visionen und Gedanken über die Natur des Kosmos austauschte", wird mit einem im Garten aufgeklaubten Ginkgoblatt ergänzt. Das stammt von einem Baum, "der aus einem von Goethe gepflanzten hervorgegangen sein soll", so die bezüglich Pathos und lebenslanger Heiligenverehrung definitiv nicht untermotivierte Patti Smith.

Edith Piaf sowie ihr Freund und Mentor Jean Cocteau sind im Buch am 10. Oktober, Piafs Todestag, zu finden. Cocteau starb 1963 nur einen Tag später. Patti Smith in ihrem Tagebucheintrag: "Der kleine Spatz sang sein trauriges Lied und richtete es an den Künstler. Er beeilte sich, ihr zu folgen, und ihre beiden Profile zeichneten sich am aufklarenden Himmel ab."

Überall nur Tote, wie es scheint. Das Buch der Tage, das die heute 75-Jährige schaltjahrfreundlich auf 366 Tage angelegt hat, geht aus einer Entdeckung von 2018 hervor. Unter dem Motto "Hello everybody!" begann sie, mit ihrer alten Polaroidkamera geschossene Sofortbilder sowie Reise-, Tournee- und Kindheitserinnerungen auf Instagram zu veröffentlichen. Bald hielt auch die moderne Technik mit einem handlicheren Taschentelefon mit Kamerafunktion Einzug in das Gesamtkunstwerk Patti Smith.

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Diverse abgelichtete Talismane aus Smiths Besitz sollen wohl Glück bringen, Kraft geben oder Trost spenden. Das Haptische ist dabei entscheidend. So finden sich auf ihrem Schreibtisch etwa ein Postkartenbild des Malers Mark Rothko, ein "Taukreuz des heiligen Franziskus von einem Mönch in Assisi", das Taschenmesser ihres verstorbenen Freundes, des Dramatikers und Schauspielers Sam Shepard, sowie eine goldgesprenkelte Murano-Schale eines Freundes namens Dimitri. "Immer weitermachen, egal, was passiert, scheinen meine Talismane mir zuzuflüstern", so Smith am 28. Jänner. Am 12. April liest besagter Sam Shepard in einem Buch des irischen Schriftstellers Samuel Beckett. Über einen Satz von ihm mussten nicht nur Shepard und Smith zeitlebens lachen: "Ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen."

Zum Weinen schön

Es bereitet Vergnügen, diese nicht immer künstlerisch wertvollen Fotos in loser Reihenfolge zu betrachten. Die berührendste und zum Weinen schöne Stelle im Buch der Tage findet sich schon im Jänner. Am 29. des Monats sitzt Patti Smith mit abgestütztem Denkerkinn in ihrem Büro und schaut unendlich müde in die Kamera: "An nichts denken. Ich erinnere mich, dass meine Mutter so dasaß. Ich fragte sie: Was ist los, Mommy? Und sie erwiderte: Ach, nichts. Inzwischen weiß ich, was nichts ist." (Christian Schachinger, 21.12.2022)