Kakao- und Kaffeebohnen enthalten dieselben Stoffe, die auch in älterem Papier zu finden sind. Das Papier neuerer Bücher weist hingegen andere Inhaltsstoffe auf, der Geruch unterscheidet sich daher.

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Madeleine Kantner verbindet den Geruch alter Bücher mit ihrer Kindheit, ihrem Vater und einem Spiel. Dabei verband sie ihm die Augen, wählte ein Buch aus seiner Bibliothek und reichte es ihm. Allein durch Geruch und Haptik konnte er das ausgewählte Werk benennen. Der Geruch neuer Bücher sei dagegen ganz anders, die Antiquarin in Wien-Mariahilf beschreibt ihn als "plastikartig". Doch auch diese Duftnote hat ihre Anhänger.

Wie kommt es zu so einer olfaktorischen Bücherliebe? Dass manche Menschen gerne ihre Nase zwischen die Seiten stecken, hat mit Erinnerungen zu tun – und der Informationsverarbeitung im Gehirn. Die wohl berühmteste Szene einer geruchsbedingten Reminiszenz ist ein Klassiker der Weltliteratur: In seinem Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" versetzt der französische Schriftsteller Marcel Proust seinen Ich-Erzähler zurück in die Kindheit. Alles, was es dazu braucht, ist der Geschmack von Tee auf der Zunge und der Geruch eines französischen Gebäcks, der Madeleine.

Der "Proust-Effekt"

Die Verbindung zwischen Geruch und Erinnerung, der sogenannte "Proust-Effekt", kann mittels Analysen der Gehirnaktivität nachgewiesen werden. Die bekannteste Studie dazu wurde 2002 im Fachblatt American Journal of Psychology publiziert: Die amerikanische Psychologin und Neurowissenschafterin an der Universität Brown, Rachel Herz, ließ Probanden an Parfumnoten riechen. Bei deren Lieblingsdüften stellte Herz im Gegensatz zu den anderen Aromen mittels Magnetresonanztomografie eine erhöhte Aktivität im Hippocampus und in der Amygdala fest.

Der Hippocampus ist jener Teil im Gehirn, der sehr eng mit dem sogenannten Riechhirn verbunden und für das Gedächtnis und die Lernprozesse zuständig ist. Die Amygdala steuert Emotionen. Gemeinsam mit anderen Hirnstrukturen gehören sie zum limbischen System, einem evolutionsgeschichtlich alten Teil im Hirn. Von den fünf landläufig bekannten Sinnen nimmt nur der Geruchssinn eine direkte Bahn zu dieser Erinnerungs- und Gefühlszentrale. Die anderen vier sind über Zwischenstationen verschaltet.

Persönliche Geruchserinnerungen

Wieso sich manche Menschen bei Vanilleduft in einer alten Bibliothek wiederfinden, andere an eine Weihnachtsbäckerei denken und wieder anderen übel wird, könnte ebenfalls neuronal erklärt werden. Wird man einer Studie der Universität Harvard zufolge zwei unterschiedlichen Gerüchen lang genug ausgesetzt, nehmen diese ähnliche Regionen im Riechhirn ein. Sandepp Robert Datta, Professor für Neurologie an der Harvard Medical School, und sein Team zeigten in der 2020 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie mit Mäusen, dass sich diese Verbindungen auch ändern können, sobald neue Geruchserfahrungen entstehen.

"Persönliche Geruchserinnerungen hängen mit der Vorgeschichte eines Einzelnen zusammen", sagt der Neurowissenschafter und Professor für Anatomie an der Université du Québec à Trois-Rivières, Johannes Frasnelli. "Bestimmte Gerüche können mit positiven Assoziationen verbunden sein." Als Beispiel nennt er die Vorfreude auf das Lesen eines Buches.

"Wenn wir das Buch öffnen, wird eine Verbindung zwischen dem Geruch, der von dem Buch ausgeht, und der Freude und dem Genuss, den wir verspüren, hergestellt." Frasnelli betont, dass diese Verbindung stärker werde, je öfter wir diesen Vorgang wiederholen. "Schließlich brauchen wir nur noch den Geruch eines Buches wahrnehmen und wir werden positive Assoziationen auslösen können."

Kaffee und Schokolade

Für das eigentliche Buchbouquet sind primär Papier, Druckerfarbe und Kleber verantwortlich. Die Duftstoffe, die wir wahrnehmen, stammen dabei von sogenannten flüchtigen organischen Verbindungen (VOC), die entweder zerfallen oder miteinander reagieren und so für bestimmte Geruchsnoten sorgen. Älteres Papier besteht unter anderem aus Zellulose und Lignin, zwei Arten von Pflanzenbestandteilen. Bei ihrem Zerfall setzt Zellulose die Verbindung Furfural frei, die als süßer, mandelartiger Geruch wahrgenommen wird.

Da Bücher, die nach 1850 hergestellt wurden, verhältnismäßig mehr Furfural aufweisen, wird dieser chemische Stoff auch für die Altersdatierung von Büchern verwendet. Lignin lässt beim chemischen Zerfall Vanillin entstehen und bildet somit ein schwaches Vanillearoma. Es ist außerdem für das Vergilben älterer Bücher verantwortlich, weshalb es in der modernen Papierproduktion entfernt wird.

Gerüche benennen

Am Institut für nachhaltiges Erbe am University College London haben Forschende versucht, diese chemische Zusammensetzung von Buchgerüchen sprachlich zu benennen. Dazu sammelten sie freigesetzte VOCs eines Buches von 1928 und Luftproben aus der Bibliothek der St. Paul’s Cathedral, die aus dem 18. Jahrhundert stammt. Probanden mussten die Gerüche mittels einer Begriffsliste beschreiben.

Das Ergebnis wurde 2017 in der Fachzeitschrift Heritage Science veröffentlicht. Für einen Großteil der Befragten rochen die gesammelten Aromen nach Schokolade und Kaffee. Denn: Sowohl Kakao- als auch Kaffeebohnen enthalten dieselben Stoffe, die auch in älterem Papier zu finden sind: Lignin, Zellulose und ein hohes Level an Furfural.

Der älteste Sinn

Insgesamt tragen aber viele Stoffe zum individuellen Duft eines Buches bei. Bei neueren Ausgaben steigt die Anzahl an verwendeten Chemikalien, weshalb eine Eingrenzung auf wenige Hauptkomponenten immer schwieriger wird. Außerdem können auch Umweltfaktoren wie eine Lagerung in staubiger Umgebung, zu viel Sonnenlicht oder Schimmel gerochen werden.

Laut Frasnelli ist die Verbindung zwischen Buch und Geruch noch wenig erforscht. Obwohl der Geruchssinn bei Säugetieren der älteste Sinn ist, wird er im Alltag und in der Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Gerüche zu benennen fällt uns Menschen schwer, nur selten riechen wir bewusst – entziehen können wir uns unserer Nase aber nicht. Madeleine Kantner hat sich an den Geruch im Antiquariat gewöhnt, während ihrer Arbeit riecht sie nichts mehr davon. Und dennoch trägt sie neue, zugekaufte Bücher immer gleich ins Geschäft – damit diese bald nach alten Büchern riechen. (Anna Wiesinger, 26.12.2022)