Auf Besuch bei einer Klientin geht der diplomierte Pfleger Thomas Mülleitner akribisch jedes Risiko durch. Österreich sei eine Reparatur-Gesellschaft, die sich Wunder erhoffe, sagt er. Genau das soll seine Arbeit ändern.

Foto: Heribert Corn

Thomas Mülleitner will alles genau wissen. Das Einfamilienhaus hat er schon bis in jede Ecke hinein inspiziert, nun horcht er seine Gastgeberin über die familiären Verhältnisse aus. Ob gelegentlich Verwandte zugegen sind, hakt der neugierige Besucher nach. Oder ist die Pensionistin gar durchwegs auf sich allein gestellt?

Sorgen um die Dame sind unangebracht. Denn Mülleitner ist weder Erbschleicher noch Trickbetrüger, sondern im staatlichen Auftrag unterwegs. Der diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger arbeitet seit April in einem von der Regierung gestarteten, aber von der EU finanzierten Pilotprojekt, das eine Lücke im Pflegesystem füllen soll (siehe Infobox unten). Als Ansprechpartner in den Städten und Dörfern sollen "Community-Nurses" wie er verhindern, dass gebrechliche Menschen auf der Suche nach Hilfe im Kreis geschickt werden – und am Ende wider Willen im Heim landen.

Stolperfallen auf der Spur

Bei Franziska Ramler ist Mülleitner rechtzeitig dran. Zwar kämpft die 80-Jährige mit abnehmender Sehkraft, und ein Wirbelleiden lässt einen Arm immer wieder einschlafen. Doch auch nach dem Tod des Gatten vor drei Jahren hielt sie den mit Garten ausgestatteten eigenen vier Wänden in Prinzersdorf, einem 1.600-Einwohner-Dorf nahe St. Pölten, die Treue.

Damit das so bleiben kann, hat sich Mülleitner beim ersten Besuch gleich einmal auf die Suche nach Stolperfallen gemacht. Ein ausgelatschter Schlapfen kann den Traum vom Lebensabend zu Hause ebenso jäh zerstören wie ein Wellen schlagender Teppich. Doch allen Risiken ist mit solch einem Rundgang noch lange nicht vorgebeugt.

Kummer bereitet zum Beispiel die Sache mit dem Rücken. Eine Physiotherapie hat Mülleitner bereits eingefädelt – was aber, wenn sich eine Operation nicht vermeiden lässt? Vom Sohn bis zum Enkel geht der 30-Jährige mit seiner Klientin sämtliche Angehörigen durch. Wer könnte wann und wie die Seniorin betreuen: Akribisch klopft er jedes Detail in seinen Laptop hinein.

Familiäre Animositäten

Er lasse das jetzt einmal sacken, sagt der Pfleger nach der Bestandsaufnahme. Als nächster Schritt sei dann geplant, die ganze Familie an einen Tisch zu holen – eine heikle Mission, für die Community-Nurses geradezu prädestiniert seien. Schließlich laufe ein Außenstehender weniger Gefahr, in angestaute Animositäten oder gar Erbstreitigkeiten hineingezogen zu werden.

Ärger kommt jedoch bereits beim Einzelgespräch mit der Klientin auf. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Befunde, Infofolder, Notizzettel verstreut– "ich habe da mein Hirn ausgeleert", sagt Frau Ramler. Das Bild, das sich für sie daraus ergibt, schmeichelt den Behörden nicht gerade. Immer noch werde ihr das Pflegegeld verweigert, klagt sie in anschwellender Lautstärke. Eine andere Frau im Ort kriege die Leistung sehr wohl – "obwohl die noch viel mehr kann als ich".

Die Einstufung folge eben einer Schwarz-Weiß-Logik , erläutert Mülleitner. Solange sie selber einkaufen gehen und ihre Körperpflege betreiben könne, werde sie durch die Finger schauen – "und wenn Sie für das Sockenanziehen fünf Stunden brauchen".

Glaube an Wunder

Im Tonfall beschwichtigt der Ratgeber die Dame, in der Sache aber kann er der Kritik einiges abgewinnen. Würde das Pflegegeld großzügiger vergeben, hätten Menschen wie Franziska Ramler mehr Mittel, um in die Vorsorge zu investieren – zum Beispiel in gezielte Therapien. Doch die Idee der Prävention sei hierzulande grob unterentwickelt: "Wir sind eine Gesellschaft, die auf Reparatur setzt – und sich davon Wunder erhofft."

Gerne würde Mülleitner jeden Prinzersdorfer über 75 Jahre anschreiben, um einen Hausbesuch anzubieten, doch diesen Plan vereitelt der Datenschutz. So manche Chance zur frühzeitigen Hilfe werde dadurch verpasst, fürchtet er, denn nicht jede und jeder Betroffene suche wie Frau Ramler von sich aus den Kontakt . Viele ältere Menschen zeigten große Scham – etwa wenn Inkontinenz im Spiel ist. Dann droht ein Teufelskreis: Isolation kann den Abbau der eigenen Fähigkeiten erst recht beschleunigen.

Mülleitners zweite Klientin an diesem Nachmittag, eine redselige Mittsiebzigerin, passt nicht unbedingt in dieses Bild – und doch brauchte es zwei Gespräche, ehe die an multipler Sklerose erkrankte Frau eingestand, dass sie ohne professionelle Unterstützung nicht mehr weiterkommt. Während Anrufe bei der Gemeinde, einem Nachbarort Prinzersdorfs, zu nichts geführt hätten, "macht er mir heilsamen Druck", erzählt die Dame.

Bereits fünf nach zwölf sei es gewesen, um eine Heimhilfe und mobile Pflege zu engagieren, sagt Mülleitner. Das Gleiche gelte für den Umbau des Badezimmers: "Im aktuellen Zustand ist das ja selbst für gesunde Menschen ein Risiko."

Um Förderungen umgefallen

Doch ausrutschen können Betroffene nicht nur auf nassen Fließen. Wer wegen einer Behinderung sein Bad barrierefrei gestalten möchte, hat zwar Anspruch auf bis zu 6.000 Euro aus dem Unterstützungsfonds des Sozialministeriums. Doch viele würden nicht daran denken, dass sie den Kostenvoranschlag einreichen müssen, bevor die Handwerker loslegen, berichtet der Pfleger – und fielen deshalb um die Förderung um.

An Angeboten fehle es oft nicht unbedingt, so sein Eindruck, sehr wohl aber an Durchblick. Dass die Kompetenzen im föderalistisch organisierten Österreich zwischen dem Bund und den neun Bundesländern zerspragelt sind, macht diese Übung doppelt schwer.

Also versucht Mülleitner, die Menschen bei der Hand zu nehmen. Er reicht für seine Klientinnen und Klienten Unterlagen bei den Behörden ein, telefoniert Pflegeanbietern hinterher, klärt über die Rechtslage auf, lädt zu öffentlichen Infoveranstaltungen und checkt Einkommensverhältnisse ab, um Förderungen bestmöglich ausschöpfen zu können. "Das Pflegesystem ist ein Dschungel", sagt er. "Ohne einen Lotsen wie mich finden sich viele nicht zurecht." (Gerald John, 10.1.2023)