Morricone ist auch im eigenen Labor seiner musikalischen Wundermischungen voller Leidenschaft: Giuseppe Tornatore hat ihn noch besucht.

Foto: Filmladen

Ein Dokumentarfilm über den Filmkomponisten schlechthin muss nicht alles, was Rang und Namen hat, heranziehen und um ein Statement bitten. Daran hat sich Giuseppe Tornatore in Ennio Morricone – Der Maestro nicht gehalten: Bruce Springsteen, Joan Baez, Bernardo Bertolucci, Quentin Tarantino, Lina Wertmüller – you name it, he has it.

Das macht aber nichts. Denn dieser Film, der mit zweieinhalb Stunden auch eine stattliche Länge aufweist, denkt im Superlativ. Er erinnert an einen prallgefüllten Gabentisch zu Weihnachten, bei dem für jede und jeden etwas abfällt. Das sicherlich Bedeutendste davon ist der 2020 gestorbene Morricone selbst. Tornatore hatte die Möglichkeit, ihn ausgiebig zu interviewen; und ihn in seiner Wohnung, dem zettelseligen Labor seines Schaffens, zu filmen – sogar beim Yoga-Training, wo die Bewegungen gleich zu Beginn mit dem Dirigieren vor dem eigenen Notenblatt verschmelzen.

Dogwoof

Ennio Morricone war ein eher zurückhaltender Künstler. Mehrmals wird er im Film als scheu und introvertiert beschrieben. Das stimmt wie viele Anekdoten allerdings nur zur Hälfte: Der Maestro konnte durchaus bestimmt auftreten. Als ein gewisser Pier Paolo Pasolini mit einer Liste an musikalischen Ideen für seine Komödie Uccellacci e Uccelini (Große Vögel, kleine Vögel, 1966) an ihn herantrat, lehnte er ab – Ideen habe er selber; dann hat er Pasolini den berühmten gesungenen Vorspann mit Violinbegleitung geschrieben ("il dolce Totò").

Heulen wie ein Kojote

Am mitreißendsten in Ennio Morricone ist es, dem 1928 geborenen Komponisten, der von seinem Vater zum Trompetenspiel angehalten wurde, dabei zuzuhören, wie er über seine Musik spricht. Allein um gesehen zu haben, wie er das kojotenähnliche Geheule aus Il buono, il brutto, il cattivo (Zwei glorreichen Halunken, 1966) selbst intoniert, lohnt den Besuch des Films. Oder später, wenn er die widerstreitenden Motive seiner Musik zum Gangsterdrama Les clan de Siciliens (1969) aufreiht: Da meint man, Morricones leidenschaftlichem musikalischem Denken ganz nahe zu kommen. Sein bebendes Gesicht, die eigensinnigen Hände werden in diesem Film wiederholt selbst zum Instrument.

Aufgebaut ist Ennio Morricone als biografischer Parcours. Das ist konventionell, aber Tornatore wühlt mit Wonne in der Archivkiste. Das Ausufernde gerinnt zum Vorteil, weil es auch die Widersprüche von Morricones Wesen und Wirken stärker herausstechen lässt. Er wollte (und konnte zumeist) vieles sein: Filmkomponist, Arrangeur, Avantgardist etc.

Vermeintliche Kontraste

Wenn er sich von John Cage inspiriert mit der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza experimenteller Musik widmete, ist der Kontrast kleiner, als man vielleicht erwartet. Morricone schmuggelte seine Kenntnisse konkreter Musik in seine populäreren Westernkompositionen ein, genauso wie er Schlager als Arrangeur des Labels RCA mit klassischer Musik durchsetzte oder zu erweitern verstand.

Man erfährt auch davon, dass diese Gratwanderung zwischen den Musikrichtungen nicht immer frei von Schwindelgefühlen war. Morricone studierte in den 50er-Jahren bei Goffredo Petrassi, einem der führenden und strengeren Komponisten des Landes. Morricones eigene Biegsamkeit, ja seine Verweigerung, in starren Kategorien zu denken, verursachten Schuldgefühle, die er gar nicht verhehlt. Die Idee, sich gegenüber den Hütern der Orthodoxie versündigt zu haben, hat bei ihm etwas sehr Katholisches.

Der Musik Freiheit gewähren

In Wahrheit ist Morricones Liebe zu all den Spielarten der Musik einfach nur größer als bei anderen. "Schreib mir doch einmal eine Melodie, die ich mir merken kann", wünschte sich seine Mutter einmal von ihm. Er schrieb dann solche, die uns alle "durchs ganze Leben begleitet haben", wie es Bertolucci treffend formuliert. Morricone beschreibt seine Maxime selbst einmal so: "Wenn man die Musik hören will, dann muss man ihr die Freiheit lassen." Es ist kein kleines Verdienst, dass Tornatore uns diese innige Verbindung aus Bilder und Tönen noch einmal in Ausschnitten mitempfinden lässt. (Domink Kamalzadeh, 22.12.2022)