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In den sechs Stunden auf US-amerikanischem Boden konnte sich Wolodymyr Selenskyj vielleicht so sicher wie seit einem Jahr nicht mehr fühlen. Doch der ukrainische Präsident, der einst als Comedian in diese schicksalhafte Rolle stolperte, ist bereit, auch sein eigenes Leben für die ukrainische Sache zu riskieren. Das hat er von Tag eins der russischen Invasion in der Ukraine an bewiesen, als er einen sicheren Fluchtweg ablehnte und stattdessen Waffen zur Verteidigung seiner Heimat forderte. Mehr als 300 Tage später war es die eigenständige Entscheidung des in seiner Rolle ungemein gewachsenen Selenskyj, sein Land für zwei Tage zu verlassen, um beim größten Unterstützer der Ukraine für weitere Hilfe zu werben.

Er tat dies mit all dem Gespür und Geschick für Symbolik, das Selenskyj und seinem hervorragenden Kommunikationsteam innewohnt. Der Frontbesuch in Bachmut einen Tag vor der Abreise muss für jene Menschen, die für Selenskyjs Sicherheit verantwortlich sind, ein regelrechter Horrortrip gewesen sein. Als er – ob geplant oder nicht – nach der Verleihung von Orden eine ukrainische Flagge mit Unterschriften und Botschaften ukrainischer Kämpfer unter dem Donner des permanenten Raketenhagels in Bachmut entgegennahm, war jedoch das perfekte Mitbringsel eingetütet – und zugleich ein Signal an den Kreml gesendet, dass der erste Mann im Staat hier keine Risiken scheut.

Ab Sekunde 47 hört man die Explosionen, die die Gefahr in Bachmut zeigen.

Wer die Gefühle der Amerikaner, die ihre Stars and Stripes vergöttern, berühren möchte, erinnert sie daran, was es bedeutet, für die Flagge zu kämpfen und notfalls zu sterben. Gelegentlich gelte es sein Leben zu riskieren, um die Menschen zu unterstützen, die tagtäglich für die Ukraine ihr Leben riskieren, sagte Selenskyj. Wer Assoziationen mit einem Kampf der Demokratie gegen das Böse wecken will, erinnert die USA an das "Hissen der Flagge auf Iwojima", eines der ikonischsten Bilder der US-Kriegsgeschichte. All dies schaffte Selenskyj in nur wenigen Stunden in Washington.

Drei von sechs US-Soldaten, die am 23. Februar 1945 in der Schlacht um Iwojima anstatt einer kleineren eine größere US-Flagge auf einem Berg hissten, verstarben noch im Pazifikkrieg.
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Überlebensfrage

Aus nationalistischer Sicht mag dieser überbordende Patriotismus langfristig durchaus problematisch sein. Aktuell hat die Ukraine aber nur ein zentrales Problem, nämlich ihr Überleben. Und um das zu garantieren, braucht Selenskyj nicht nur die Aufmerksamkeit und den Wohlwollen des Westens. Er braucht auch dessen finanzielle wie militärische Unterstützung. Beides auch nach zehn Monaten Krieg noch so hochzuhalten, während in der Ukraine nach wie vor ein breiter Zusammenhalt herrscht, ist allen voran der Verdienst Wolodymyr Selenskyjs. Das Bild mit der ukrainischen Flagge im Kapitol ging heute früh um die Welt. Es wird zu Hause unglaublich gut ankommen und Sympathien vielerorts ankurbeln.

Nicht alle gönnen ihm diesen Erfolg. Vertreter am rechtspopulistischen russlandfreundlichen Rand wie Donald Trump Jr. bezeichnen Selenskyj abschätzig als "undankbare Wohlfahrtskönigin". Und tatsächlich, gelegentlich müssen sich Selenskyj und seine Regierungsvertreter da und dort selbst einbremsen, um nicht als zu fordernd daherzukommen. Doch der 44-Jährige macht auch das geschickt. Kontert eigene Fettnäpfchen, indem er sagt, es tue ihm leid, so kurz nach großzügigen Hilfen schon um weitere Lieferungen zu bitten. Aber man sei nun einmal im Krieg. Da tue man eben alles, um sein Land zu verteidigen.

Im US-Kongress setzte Selenskyj schließlich zum rhetorisch stärksten Schachzug seiner Reise an. Nachdem er den Abgeordneten für die bisherigen Pakete großzügig gedankt hatte – sehr wichtig! –, appellierte er an das, was die US-Amerikaner am liebsten hören: ihre globale Führerschaft in Sachen Demokratie. "Euer Geld sind keine Almosen. Es ist ein Investment in globale Sicherheit und Demokratie", sagte Selenskyj. Geld, mit dem man äußerst verantwortungsvoll umgehe. Aber wenn man eben noch mehr Geld bekäme, dann könnte man den ukrainischen Sieg beschleunigen. Eine Aussicht, die vielen in den USA durchaus gefallen dürfte. Eine Aussicht, die Selenskyj seine gefährlich Reise in die Heimat zufrieden antreten lassen dürfte. (Fabian Sommavilla, 22.12.2022)