Ein Roadmovie von Polen nach Italien: Ein Esel durchläuft unterschiedliche Situationen und trifft auf immer neue Menschen. Seine Perspektive ist der Kommentar.

Foto: Stadtkino

Jerzy Skolimowski ist gerade in Amerika, als er sich Zeit nimmt für ein Skype-Gespräch mit dem STANDARD. Er macht Promotion für seinen Film Eo. Im hohen Alter von bald 84 Jahren hat der Pole, der in seiner schillernden Karriere auch in Belgien, Frankreich und in den USA gearbeitet hat, noch einmal ein echtes Filmkunstwerk geschaffen. Er wirkt vital und beugt sich immer wieder so über den Bildschirm, dass man fast fürchten wollte, er falle gleich herüber. Als das Gespräch beinahe zu Ende ist, bittet er noch Ewa Piaskowa vor die Kamera, seine Frau und auch künstlerische Partnerin. Sie war an der Geschichte von Eo maßgeblich beteiligt.

STANDARD: Sie haben einen Film über einen Esel gemacht, der aus einem Zirkus "befreit" wird und dann auf eine Odyssee gerät. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Skolimowski: Unser letzter Film 11 Minutes liegt sieben Jahre zurück. Wir haben nachgedacht, was wir als Nächstes machen wollten. Und dabei war uns vor allem klar, was wir nicht machen wollten: Wir wollten keine lineare Erzählung von A nach B. Außerdem dachten wir an eine Tierfigur, das sollte uns eine neue Perspektive eröffnen, etwa durch den Verzicht auf Dialog. Das gesprochene Wort ist meiner Meinung nach immer eine Schwachstelle in Filmen.

STANDARD: Zuerst dachten Sie allgemeiner an ein Tier. Welche anderen standen zur Debatte?

Skolimowski: Wir brauchten ein Tier, dem man 100 Minuten folgt. Auf einen Esel kamen wir zufällig. Wir trafen ihn in Sizilien in einer Krippenszene. Die ganze Bevölkerung des Dorfes Custonaci spielte mit, in einer Scheune waren alle möglichen Tiere versammelt, die machten einen Riesenlärm, eine richtige Kakofonie der Tiere war das. Irgendwo ganz hinten aber stand allein, bewegungslos und keinen Laut von sich gebend, ein Esel mit riesigen melancholischen Augen. Er reagierte nicht oder nur mit seinen Augen. Das erschien mir wie ein Kommentar zu dem Spektakel.

STANDARD: Ein tierischer Antiheld.

Skolimowski: Aus der Frühzeit des Kinos gibt es ein Experiment von Lew Kuleschow, in dem ein ausdrucksloses Gesicht in verschiedenen Zusammenhängen zu sehen ist. Je nach dem visuellen Kontext liest man unwillkürlich das Gesicht anders. Daran musste ich denken. Deswegen wurde Eo ein Roadmovie von Polen nach Italien, der Esel durchläuft unterschiedliche Situationen und trifft Menschen. Seine Perspektive ist der Kommentar.

STANDARD: Es stimmt also nicht, dass Sie einen Klassiker des Nachkriegskinos neu verfilmen wollten: Bressons "Zum Beispiel Balthasar"?

Skolimowski: So steht es überall zu lesen, aber so war es nicht. Eo ist alles andere als ein Remake. Ich bewundere den Film von Bresson, es ist der einzige Film, der mich jemals zu Tränen gerührt hat. Aber ich würde eher von einer Hommage sprechen, von einer Verbeugung vor dem alten Meister. Bei Bresson gehört der Esel Balthasar zu einem französischen Dorf, wir sehen eine geschlossene Gesellschaft. Der Esel ist nicht die zentrale Figur, das ist das Mädchen. Bresson ist ein Minimalist, er hat alles mit einer 15-mm-Linse gedreht. Ich hingegen habe jede erdenkliche Filmtechnik genützt. Bresson hatte Laienschauspieler, bei mir sind sehr professionelle Schauspieler bis zur höchsten Kategorie zu sehen.

STANDARD: Zum Beispiel Isabelle Huppert.

Skolimowski: Ich wusste, dass sie sich auch immer wieder zu Fragen des Tierschutzes geäußert hat. Also schrieb ich ihr, ob sie vielleicht in meinem Film mitmachen würde. Durch ihr Mitwirken ist Eo nicht nur eine obskure osteuropäische Stimme, sondern eine seriöse europäische Koproduktion, mit Geld aus Italien und Polen. Sie hat nur einen relativ kurzen Auftritt, einen Cameo-Part, ich habe aber alles getan, um ihr eine spannende Figur zu präsentieren.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass "Eo" Ihr experimentellster Film bisher ist?

Skolimowski: Ich neige immer zu experimentellen Lösungen in meinen Filmen. Vielleicht ist dieser der wagemutigste. Wir probieren optisch viel aus. Wichtig ist vor allem auch die Musik. Pawel Mykietyn ist ein klassischer Komponist. Seine Symphonien werden in Konzertsälen auf der ganzen Welt gespielt, er widmet sich aber mit gleicher Leidenschaft einem Soundtrack. Der ist entscheidend, weil der Esel ja nicht spricht. Die Musik ist der innere Monolog. Das hat Pawel geschaffen, der ganze Film beruht auf Emotionen.

STANDARD: Am Ende des Film kritisieren Sie noch einmal ausdrücklich unseren Umgang mit Tieren. Essen Sie Fleisch?

Skolimowski: Wir haben unseren Fleischkonsum drastisch reduziert und hoffen, eines Tages – bald, sehr bald – vollständig vegetarisch zu werden. Die Hälfte unserer Crew hat auch aufgehört, Fleisch zu essen. Offensichtlich ist der Film aus Liebe zu Tieren und der Natur entstanden. Menschen essen zu viel Fleisch.

STANDARD: Sie sind Pole und Weltbürger. Wie stehen Sie zu Ihrem Heimatland?

Skolimowski: Ich bin ein polnischer Patriot. Politisch bin ich nicht glücklich über das, was in meinem Land passiert. Meine Kritik äußere ich, wo immer ich kann. Ich bin aber nicht pessimistisch. Die Schönheit der Natur in Polen ist etwas Einmaliges, das prägt meine Beziehung zum Land. Manche Leute sind gut, manche böse, der Esel trifft diese wie jene.

(INTERVIEW: Bert Rebhandl, 23.12.2022)