Blackout in Odessa: Nach der Dunkelheit kam immer das Licht, schreibt Marjana Gaponenko.

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Am 9. Jänner 1916 zeigt die Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Petit Journal einen Riesen, der über einen im Schnee kampierenden deutschen Trupp eine Decke aus Eis und Frost wirft. Le Général Hiver, eine Personifizierung des strengen russischen Winters, ist ein alter Mann mit weißem Bart. Er trägt eine rote Tschocha, den traditionellen Mantel der Georgier, und eine Papacha aus Schaffell auf dem Kopf.

General Frost als treuer Verbündeter Russlands

Diese märchenhaft anmutende Gestalt stellt vermutlich den Grafen llarion Woronzow-Daschkow dar, den Oberbefehlshaber der Kaukasischen Armee. Die weiße Todesdecke in seinen Händen könnte man als Rache in eigener Sache betrachten. Falls das tatsächlich Woronzow-Daschkow ist, bestraft er die Deutschen für den Beschuss der georgischen Hafenstadt Batumi vom Meer aus.

Zwei unvereinbare Gefühle drückt der Blick seiner blauen Augen aus – Zorn und Gleichgültigkeit. Vielleicht liegt dieser Effekt darin begründet, dass der Greis seine Augen unabhängig voneinander bewegen kann? Gleichgültig schaut er nach vorn in die Zukunft, zornig nach rechts zu den deutschen Soldaten, die arglos und müde ihre steifen Körper am Lagerfeuer wärmen. Einige, die den Riesen bemerkt haben, fliehen schon, doch sie alle haben keine Chance. General Frost als treuer Verbündeter Russlands hat seit Jahrhunderten einen warmen Platz in der unergründlichen russischen Seele, frühestens seit dem tragischen Russlandfeldzug der Schweden im Winter 1708/1709.

Nationalheiliger

Jedes Kind kann von Napoleons erfrorener Armee ein Lied singen bzw. ein passendes Gedicht aufsagen, z. B.: "Sag, Oheim, nicht umsonst in Flammen, brach unser Moskau einst zusammen, vor des Franzosen Macht" von Lermontow.

Das letzte Mal hat General Frost im Winter 1941/1942 an Russlands Seite gekämpft und den ohnehin ausgemergelten und schlecht ausgerüsteten Wehrmachtssoldaten den Rest gegeben. Seit dem Sieg über Hitlers Deutschland hat sich dieser General endgültig zu einem Nationalheiligen in Russland etabliert. Nun fällt sein Name immer häufiger in russischen Talkshows.

Russische Propagandisten und Propagandistinnen setzen genauso wie ihre Regierung größere Hoffnungen auf ihn als auf ihre leiblichen Generäle und ihre Armee. Sein Kommen läuten systematische Raketenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur ein. Möge er doch bitte übernehmen und die Feinde zu Tode erfrieren lassen! Die Feinde, das sind nicht die Soldaten der ukrainischen Armee, nicht die Nato-Soldaten oder die polnischen Söldner, die in der Ukraine inkognito mitkämpfen sollen.

In der Dunkelheit Odessas sieht man nur vereinzelte Lichter, die aus den Wohnungen strahlen.
Foto: Gaponenko

Ohne Strom, Wasser und Wärme

Der Feind ist die ukrainische Bevölkerung. Ohne Strom, Wasser und Wärme würden die Übriggebliebenen schon früher oder später zur Vernunft kommen und ihre Nazi-Regierung zur Kapitulation zwingen. Millionen von Menschen in Russland glauben das. Das ist ihr Krieg. Der Sieg über Hitler wurde zur ihrer Staatsreligion. Und die neuen Feinde, das sind jedenfalls wir, das Volk der Ukraine.

Vor einigen Wochen, als ich wegen eines Blackouts in Odessa meine Familie tagelang nicht erreichen konnte, bin ich über eine animierte Ukraine-Landkarte in einem russischen Facebook-Kommentar gestolpert. Die Animation zeigt mehrere rosa Schweinchen mit Nato-Helmen und Gewehren, die sich im Westen der Ukraine aufgestellt haben. In der Zentralukraine läuft eine verzweifelte Ratte hin und her auf der Suche nach einem Luftschutzraum, denn sie sieht eine Kalibr-Rakete im Anflug. Die Rakete kommt immer näher, kreist spielerisch über dem Tier, als versuche sie, es zu necken, und dann trifft sie schließlich ihr Ziel. Die Ratte ist weg, die Schweinchen sind weg, die gesamte Ukraine steht in Flammen. Die militärische Spezialoperation ist zu Ende.

Keine Panik

Oder geht es noch weiter? Was ich als besonders schmerzhaft empfunden habe, war seltsamerweise nicht das Inferno, sondern die Tatsache, dass die Ratte auf Hinterbeinen, dazu noch gebeugt und langsam wie eine alte Dame herumgelaufen war.

Meine Mutter schickt mir immer wieder Bilder und Videos, vorausgesetzt, es gibt Strom und sie hat Internet. Sie will nicht, dass ich mir um sie und meine neunzigjährige Großmutter Sorgen mache. Am 25. und 26. Februar 2022 waren es Fotos unseres gut gefüllten Kühlschranks von innen, Videos aus dem Supermarkt von Gängen mit Regalen, von der Käse- und Brottheke. Mutters Stimme aus dem Off: "Wie du siehst, gibt es keine Panik, die Eier sind aber ganz schön teuer, sehe ich gerade."

Bilder vom Meer

Sie schickt mir Bilder und Videos vom Meer im Frühsommer und von den kreischenden Möwen, die über den menschenleeren, verminten Stränden kreisen. Eines der schönsten Videos zeigt, wie ein Bauer mit seinem Milchwagen durch unsere Straße fährt und durch den Lautsprecher den alten Spruch meiner Kindheit ruft: "Moloko, tworog, sliwki!" – "Milch, Quark, Sahne!" Es wirkt auf mich wie Magie und lässt mich zum ersten Mal seit Monaten laut lachen. Und nun kommt dieser Tage ein anderes Bild bei mir an. Titel: "Blick aus unserem Küchenfenster". Ein durchaus vertrauter Anblick für mich, denn ich kenne stabilisierende Stromabschaltungen aus den 1990er-Jahren, als ich die Abende ohne Licht geliebt habe, vielleicht, weil sie eine Art Zeit-und Raumlosigkeit entstehen ließen, eine andere Welt, in der alles möglich schien.

Ein Mann bittet während eines Stromausfalls in der ukrainischen Schwarzmeerstadt Odessa am Eingang der Verklärungskathedrale um Almosen.
Foto: APA/AFP/OLEKSANDR GIMANOV

Hörst du Tina Turner singen?

Das Bild mit den beiden erleuchteten Fenstern des fünfstöckigen Hauses gegenüber gibt mir trotzdem einen Stich. Während wir aber miteinander telefonieren, fühle ich mich immer besser. (Komischerweise klappt das Telefonieren zwischen Deutschland und der Ukraine gut. Obwohl man innerhalb der Ukraine oft keine Anrufe tätigen kann.) Das Leben gehe auch im Dunkeln weiter. Es sei nur sehr schwierig ohne Internet und schade um die Lebensmittel im Eisfach, aber das Radio laufe, hörst du Tina Turner singen? Die Heldentaten unserer Elektriker, höre ich sie sagen. Die Kämpfe an der Front ...

"Und die Babuschka?", frage ich. "Alles gut, sie trinkt Tee und löst wie gewohnt ihre Kreuzworträtsel ... im Licht einer Laterne", fügt die Mutter ganz ohne Pathos hinzu. Lang ist es her, als ich solche Abende genießen konnte. Vielleicht, weil ich wusste: irgendwann, meist um Mitternacht, würden die Lichter wieder angehen.

Nach der Dunkelheit kam das Licht

Sie gingen immer an, nach der Dunkelheit kam immer das Licht, nach der Nacht der Morgen, und ich musste leider zur Schule. Die Hausaufgaben, die ich im Kerzenschein machte, zeigten, so scheint es mir, mich auf dem Gipfel meiner Möglichkeiten. Schön war es, den beiden Frauen durch die dünne Wand zuzuhören, wie sie in der Küche in ihren Tassen rührten, aber auch den Stimmen aus dem alten Totschka-Radio, das im Hintergrund lief, damals noch über Drahtfunk.

Auch ohne Strom lief es ungerührt weiter. Der Lichtkegel der Kerze, honiggelb, lugte um die Ecke des Flurs hervor – wie ein Freund. Doch diesmal sind es nicht technische Notwendigkeiten, die zu dem Verzicht geführt haben, sondern etwas anderes. Der Krieg.

"Hörst du Tina Turner singen?", fragt die Mutter Marjana Gaponenko am Telefon und schwärmt von den Heldentaten der Elektriker.
Foto: Ekko von Schwichow

Als Mensch hat man immer die Wahl

Manchmal frage ich mich, was mit all diesen Menschen in Russland passiert? Was empfinden sie für uns wirklich? Neid, Verachtung oder puren Hass? Die Schriftstellerin in mir hätte es gerne gewusst, doch es wird immer unwichtiger. Was ich inzwischen auf jeden Fall verstanden habe, ist: Grausamkeit ist nicht die Abwesenheit von Mitgefühl. Grausamkeit ist eine Lebenshaltung, für die man sich bewusst entscheidet. Man hat immer die Wahl, man hat sie schon als Kind: Quäle ich die Ratte oder nicht? Fahre ich in die Ukraine oder bleibe ich ein paar Monate bei der Mutti im Schrank? Gehe ich noch schnell zu Ikea ein Ledersofa kaufen, bevor das Unternehmen aus Russland verschwindet, oder klebe ich mich in den ersten Kriegstagen aus Protest am Mausoleum fest?

Als Mensch hat man immer die Wahl, manchmal auch die Ehre und das Gewissen. Wenn General Frost ein Mensch wäre, was würde ihm sein Gewissen diktieren? Stünde er gerne im Dienst eines Terroristenstaats? Früher hat er seinen alten Freunden geholfen, wenn sie angegriffen wurden. Jetzt sind sie aber plündernd und mordend in einem anderen Land unterwegs. Stand das im Vertrag?

"... wünsche ich Ihnen, liebe Frau Gaponenko, mit minimalen Verlusten durch diese Zeit zu kommen", steht auf einer Weihnachtskarte, die ich dieser Tage bekommen habe. Ich finde den Wunsch einfach super. Wenn die Gespenster dieser Verlust sind, so trenne ich mich von den Gespenstern. Die Tage zwischen den Jahren lassen einen innehalten, das vergehende Jahr Revue passieren. Ich nutze sie heuer, um zum ersten Mal in meinem Leben zu beten, für meine Landsleute, die ihr Leben oder ihre Lieben verloren haben, ich werde sie auch nutzen, um Abschied zu nehmen – vom Traum, mit der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok zu fahren oder eine Woche lang in die Eremitage zu gehen ...

Abschied vom Traum

Abschied von all den Werken der russischen Literatur, die mein Weltbild als Kind und Jugendliche mitgeprägt haben, von all den großen und schönen Sätzen über das Menschsein, die Liebe, die Seele, die glühende Reue, die einem den Schlaf raubt und das Herz spaltet, über die Natur. In einer anderen Welt, in einem anderen Leben haben sie ganz bestimmt eine Gültigkeit, Glanz und Zauber für mich. Nur nicht jetzt, nicht hier, nicht mehr. Leben Sie wohl, Fjodor Michailowitsch. (Marjana Gaponenko, 23.12.2022)