Angela Steidele zeigt, wie literarische Biografie geht.

Foto: Heike Steinweg

Der Leipziger Haushalt des Komponisten Johann Sebastian Bach bildet den Schauplatz des Romans von Angela Steidele. Bachs älteste Tochter Dorothea berichtet darin von ihrem Zusammentreffen mit Luise Adelgunde Victorie Gottsched, mit der sie eine tiefe Freundschaft verband. 25 Jahre nach deren Tod durchsucht sie ihre Schriften und erinnert sich an die gelehrteste Frau ihrer Epoche. Aufklärung, der Titel des Romans ist so mehrfach zu verstehen. Er verweist sowohl auf die bekannte Ära als auch auf die Dramaturgie des Textes, da Dorothea immer tiefer in das Leben Luises und ihrer Gefühlslagen dringt und damit die gängige Vorstellung dieser Zeit um die vernachlässigte Perspektive jener Frauen erweitert. Schließlich könnte der Begriff auf Steideles Vorgangsweise angelegt werden, da sie historische Quellen zu Autorinnen aufbringt, welche im Lauf der Geschichte verlorengingen.

Unterm Namen des Mannes

Die Erzählerin Dorothea ärgert sich über die Biografie, die Luises Ehemann, der in die Literaturgeschichte eingegangene Johann Christoph Gottsched, über sie schrieb, und in der er vor allem sich selbst feierte: "Ihre vielen Bücher zählt er aber nur auf. Was drin steht, erfährt man nicht. Vor allem lobt sich der Professor selbst dafür, sich eine Gehülfinn aus ihr bereitet zu haben." Mit Dorothea tauchen wir in die häusliche Atmosphäre der Familie Bach. Ehefrauen, Töchter, Söhne arbeiten mit voller Kraft an der Produktion, Aufführung, Verbreitung der väterlichen Kompositionen. Bach verzichtet jedoch darauf, seine Frauen und Töchter als Mitarbeiterinnen zu erwähnen, weil sie keine eigenen Werke schufen, sondern nur zuarbeiteten. Da Luise bei Dorothea Gesangsstunden nimmt, gibt das Gelegenheit, derartige Missstände zu diskutieren.

Luise wirkt als Übersetzerin, Theaterautorin, Schriftstellerin, Assistentin ihres Mannes. Sie übersetzt Voltaire, kennt die berühmten Schriftsteller ihrer Zeit. Viele ihrer Werke erscheinen jedoch unter dem Namen ihres Mannes in von ihm herausgegebenen Schriften. Dennoch kritisiert Luise seine Thesen, in denen er behauptet, Literatur lasse sich nach vernunftbasierten Regeln herstellen, macht sich sogar darüber lustig: "So etwas kann nur ein grundunmusikalischer Mensch schreiben."

Ein neues Genre

Offen kann sie ihre Meinung aber nur in Briefen äußern, die sie mit ihrer Vertrauten, der Schriftstellerin Dorothea Henriette von Runckel, wechselt, welche nach Luises Tod diese Korrespondenz veröffentlicht. In Briefwechseln ersteht damals ein Genre, in dem Frauen, denen sonst keine Publikationsmöglichkeiten zugestanden wurden, ihre Sicht der Welt mitteilen konnten.

Steidele arbeitet Originaltexte vergessener Dichterinnen und Denkerinnen in den Roman ein, gibt einige von den Gottscheds verfasste Theaterstücke wieder, deren Thematik und Charaktere heute nahezu absurd klingen. Die Autorin bereitet ihr Material zum Teil dialogisch auf, reflektiert dazu den Prozess des Erzählens. So werden bislang als allgemeingültig angesehene Theorien aufgebrochen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, die von den Gottscheds verfasste und übersetzte Stücke mit ihrer Truppe zur Aufführung bringt, diese aber wegen dramaturgischer oder sprachlicher Mängel heftig kritisiert. Steidele vermittelt damit einen Eindruck der Literatur-, Theater- und Musikszene mit ihren Konkurrenzkämpfen, ein Zeitbild also, in das geschickt Kommentare eingeflochten werden, die bis heute Gültigkeit haben.

Angela Steidele, "Aufklärung. Ein Roman". € 26,50 / 603 Seiten. Insel- Verlag, Berlin 2022.
Foto: Suhrkamp-Verlag

Mehr als Gattinnen

Dorothea Bach bildet eine Verbindung von den geistigen Grabenkämpfen zum Sinnlich-Körperlichen, da sie den Haushalt führt, Bier braut, Gäste bewirtet, zusätzlich zu ihrer Schreiberinnentätigkeit, zu ihrem musikalischen Leben, zur Sorge um die vielköpfige Familie. Die enormen Kenntnisse der Literatur- und Musikwissenschafterin Steidele finden in Diskussionen um Zusammenhänge von Sprache und Musik, die sie den Freundinnen in den Mund legt, ihren Ausdruck.

Weibliches Wissen und weiblicher Humor stehen so gegen eine von Männern behauptete Weltweisheit, welche oft ziemlich pompös daherkommt. Nötig wäre deshalb eine Stärkung der weiblichen Position, meint Luise Gottsched: "Wir Frauen müssen endlich aufhören, unser Licht unter den Scheffel zu stellen", und "der Welt zeigen, dass Frauen mehr als Gattinnen, Mütter und Hausfrauen sind". Dass es also seit Jahrhunderten Kritik am männlichen Allwissenheitsanspruch gab, diese aber erfolgreich aus der Geschichte gelöscht wurde, wird mit Steideles Biografieroman deutlich.

Die Autorin hat dieses Verfahren mit Werken zu bemerkenswerten Frauen wie etwa der queeren Reisenden Anne Lister oder Catherina Linck, die als Anastasius Rosenstengel Frauen beglückte, bereits erfolgreich erprobt. Die literarische Biografie stellt ein vernachlässigtes Genre dar, argumentiert Steidele in einem Essay von 2019. Wie erhellend es sein kann, historische Quellen aufzustöbern und einem interessierten Publikum zu vermitteln, ist mit Aufklärung bewiesen. (Sabine Scholl, 27.12.2022)