Pro-russische Panzer auf dem Weg nach Oleniwka.

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Bevor es losgeht – es hat sich über Wochen und Tage irgendetwas "zusammengebraut", wie der Fallschirmjäger Pawel Filatjew immer wieder schreibt –, stößt er sich beim Besteigen des alten Ural-Lastkraftwagens auch noch das Auge. Es ist blutverkrustet, seine Sinne sind benommen. Der wenige Schlaf, die schlechte Ernährung auf dem Truppenübungsplatz, wo seine Einheit vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 untergebracht war, haben ihm zugesetzt. "Schon damals waren alle ausgelaugt. Viele hatten einen Monat unter fürchterlichen Bedingungen auf dem Truppenübungsplatz gewohnt. Die Nerven lagen blank, zumal die Situation immer ernster und unklarer wurde."

Nachdem Filatjew desertierte und schließlich aus Russland floh, trat er mit ZOV. Der verbotene Bericht. Ein russischer Fallschirmjäger packt aus an die Öffentlichkeit. Der Bericht ist eine Mischung aus persönlichen Reflexionen und Rückblenden und Berichten aus dem Krieg und von der Front, die im Stile von Tagebucheinträgen verfasst sind. Filatjew arbeitet sich vor allem an der Korruption in der russischen Armee ab, zeigt anhand eigener Erlebnisse und Beobachtungen, welche Folgen sie für den einfachen Soldaten hat – und welche Auswirkungen sie im Kriegsgeschehen auf seine Einheit hat. Der Bericht lässt sich nur schwer auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen. Aber er liefert Indizien dafür, warum die russische Armee derart schlecht organisiert ist und warum sie sich, im Gegensatz zu vielen westlichen Einschätzungen vor der Invasion, offensichtlich in einem derart miserablen Zustand befindet.

Pawel Filatjew, "ZOV. Der verbotene Bericht. Ein russischer Fallschirmjäger packt aus". € 23,– / 192 Seiten. Hoffmann & Campe, 2022
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Wie schon sein Vater

Dass es Filatjews Land ist, das die Ukraine überfällt, scheint er anfangs nicht geahnt zu haben. Nur, dass sich irgendetwas "zusammenbraut". Am 20. Februar hatte man den Soldaten mitgeteilt, dass sie sich vorbereiten sollten, nur leichtes Gepäck sei erlaubt. "Beschießen wir die angreifenden Ukrainer? Die Nato? Oder greifen wir an? Wem gilt dieser höllische Beschuss? Wo kommt die Fernartillerie her? Gab es ein Referendum in den Volksrepubliken? Nehmen wir Cherson ein? Greift uns die Ukraine an, mit Hilfe der Nato? Wie dem auch sei, wir haben sicher einen Plan." Filatjew glaubt, dass sie in eine der sogenannten Volksrepubliken verlegt werden, die Putin am 21. Februar als unabhängige Staaten anerkannte.

Um vier Uhr morgens des 24. Februars ist Filatjew als Soldat des 56. Luftsturmregiments allerdings nicht auf dem Weg in den Donbass, sondern in die Ukraine. Er ist 33 und Unteroffizier. Wie sein Vater, der bereits beim 56. Luftsturmregiment diente, ist er Berufssoldat. Nach seinem Wehrdienst ging er als Zeitsoldat von 2007 bis 2010 nach Tschetschenien. Den Sprung an die Militär-Uni schaffte er nicht. Stattdessen wird er Facharbeiter für Tierzucht bei Miratorg, einem Großunternehmen in der Fleischindustrie. Er wird Spezialist für Pferdezucht, verliert aber seinen Job, als das Unternehmen von Sanktionen getroffen wird. Er beschließt auszuwandern, was ihm nicht gelingt. Er jobbt weiter in der Pferdebranche, kommt aber finanziell und perspektivisch nicht vom Fleck. Am 12. August 2021 unterschreibt er wieder einen Vertrag als Zeitsoldat.

Kampfstiefel selbst kaufen

Filatjew schildert, wie schlecht die Soldaten schon vor dem Krieg ausgerüstet waren, er selbst musste sich seine Kampfstiefel selbst kaufen. Es fehlte an allem – an guten Waffen, an Socken, Schlafsäcken, Schlafmöglichkeiten, an funktionierenden Heizungen in den Lkws und Fahrzeugen, an Munition und natürlich an Essen.

Und vor allem: an Informationen. Die Soldaten in einer Parallelwelt aus Ahnungs- und Orientierungslosigkeit gefangen zu halten, damit sie sich kein eigenes Bild der militärischen Lage und kein Gesamtbild von was auch immer machen können, gehört zu den Praktiken einer autoritär und zentralistisch organisierten Armee. Allerdings führte der Mangel an Informationen und an fähigen Militärs laut Filatjew bei seiner Einheit dazu, dass man nicht wusste, von wo der Beschuss kam, wo man sich überhaupt genau fand, sodass das Friendly Fire, also der Beschuss durch die eigenen Leute, zum ständigen Begleiter wurde.

Generalabrechnung

Der Bericht ist eine Generalabrechnung mit denen, die Russland und die russische Armee aus eigenen Machtinteressen zersetzt haben. "Aus meiner Sicht ist diese Regierung", urteilt Filatjew an einer Stelle ironisch, "entweder absolut unfähig oder selbst ein ‚Agent des Westens‘, dessen Ziel die Zerstörung Russlands ist." Er selbst verurteilt den Krieg gegen die Ukraine – aber der Bericht ist keine Auseinandersetzung mit dem Leid der Menschen in der Ukraine. Die Frage, wie viel Anteil der Einzelne, auch ein Filatjew, an diesem grausamen Krieg hat, schneidet der Autor auch an, ohne wirklich zu einer durchdachten Antwort zu kommen.

Dafür ist er womöglich immer noch zu sehr Soldat, zur sehr Patriot, zu sehr "Kind des Systems", das ihn geformt hat. So ist ein Bild von Filatjew, das er im Buch immer wieder benutzt, um den Wahnsinn, das Chaos, die Ausweglosigkeit, die Ratlosigkeit zu verdeutlichen, vielleicht die eigentliche Antwort: Er ist in einem alten Ural unterwegs, dessen Bremsen nicht mehr funktionieren. (Ingo Petz, 26.12.2022)