Franz Welser-Möst ist ein Mann mit Humor. Die Musik der Strauß-Dynastie braucht aber auch Ernst und Konzentration.

Foto: Julia Wesely

Mit den Jahren, so Franz Welser-Möst, sei ihm diese Musik immer näher gekommen. Gleichwohl bringt das Neujahrskonzert, jene Manege, in der das Repertoire der Strauß-Dynastie zelebriert wird, Druck und Anspannung. Zudem hat Welser-Möst bei seinem nun dritten Konzert überwiegend Stücke ausgewählt, die noch nie gespielt wurden. Das bedeutet für die Philharmoniker wohl auch ein paar Extraübungsrunden.

STANDARD: Sie haben ein interessantes indirektes Naheverhältnis zur Strauß-Dynastie. Sie sind mit der Familie Dommayer verwandt, in deren Etablissement viel Strauß uraufgeführt wurde.

Welser-Möst: Inzwischen hat Historiker Oliver Rathkolb herausgefunden, dass ich auch mit der Familie Scherzer, die das Sperl betrieb, verwandt bin und nicht nur mit der Familie Dommayer, bei der auch Strauß-Musik uraufgeführt wurde. Ich kann dazu sagen: Wenn es bei uns um die Familie Dommayer ging, sprach man mehr über Kochbücher und weniger darüber, dass Joseph und August Lanner, Johann und Eduard Strauß da gespielt haben. Meine Urururgroßmutter, eine Dommayer, hat ja ein berühmtes Kochbuch geschrieben, das sie Katharina Schratt, die mit Kaiser Franz Joseph ja eine Beziehung hatte, geliehen hat. Frau Schratt hat das Buch übrigens nie zurückgegeben.

STANDARD: Diese Musik scheint Ihnen jedenfalls sehr nahe, Sie haben das Neujahrskonzert bereits zweimal dirigiert. Wird es leichter?

Welser-Möst: Ihre Kollegin Barbara Rett hat gesagt: Es hat noch keinen Debütanten gegeben, den wir nicht als Kreidebleichen auf die Bühne schieben mussten ... Das erste ist heftig. Nun, zehn Jahre später, überwiegt die Freude.

STANDARD: Haben Sie Ihre beiden Konzerte wieder nachgehört?

Welser-Möst: Nein! Ich höre meine Stimme auf Band ungern, ich sehe mich nicht gerne im Fernsehen. Für mich ist es auch sehr anstrengend, wenn ich Musik abhören muss.

STANDARD: 14 von 15 Stücken hat man bei diesem Event noch nie gehört. Haben die Philharmoniker protestiert?

Welser-Möst: Nein, es gab natürlich kleine Bedenken, wenn man nur Unbekanntes spielt, mein Argument war aber: Jemand, der sich das Neujahrskonzert anhört, sagt ja nicht: "Ah, heute spielen sie wieder die Feuerfest-Polka von Josef Strauß! Deshalb schau ich mir das an!" Ich glaube, dass wir eine Entdeckungsreise offerieren können, so, als würden wir durch eine unbekannte schöne Landschaft fahren.

STANDARD: Gibt es nicht ein gewisses Qualitätsgefälle zwischen den etablierten Stücken und jenen, die vielleicht zu Recht nicht so bekannt wurden?

Welser-Möst: Ich habe zu Hause von Johann und Josef Strauß und Joseph Lanner alles, was sie geschrieben haben. Während der Pandemie, bevor ich für das Neujahrskonzert eingeladen wurde, habe ich oft in meiner Bibliothek geschmökert und tolle Sachen entdeckt. Als ich dann eingeladen wurde, habe ich mir eine Liste aller Stücke schicken lassen, die beim Neujahrskonzert je gespielt worden waren. Siebzig Prozent wurden noch nie gespielt! Natürlich, wie auch bei Herrn Mozart, ist nicht alles auf exorbitantem Niveau. Genug aber auf höchstem Niveau.

STANDARD: Ein Gedankenspiel: wenn Ihr Cleveland Orchestra dieses Repertoire spielen müsste?

Welser-Möst: Die haben eine ganz andere Tradition. Vor ein paar Jahren kam der Konzertmeister nach der Generalprobe zu mir, wir hatten nur die Hälfte des Konzerts mit wienerischem Programm bestritten, ungefähr 35 Minuten. Er meinte jedoch, sein Kopf würde explodieren. Inzwischen, da wir dieses Repertoire ja auch gespielt haben, ist Selbstverständlichkeit hinzugekommen. Es ist die Kleinteiligkeit, die es so schwierig macht. Sie haben etwa einen Walzer von neun Minuten: Da ist eine Einleitung, in der es schon verschiedene Tempi und Übergänge gibt. Dann habe Sie fünf Walzerketten, die jeweils zweiteilig sind. Und dann kommt noch eine Coda, in der die eine oder andere Melodie wiederkommt – mit Rubati. Und diese Rubati dürfen ja nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig sein. Zu viel wirkt geschmacklos, zu wenig klingt ein bisschen mechanisch. Ein Prinzip ist wichtig: Der Puls der Musik darf nicht verlorengehen, es darf keinen Stopp geben. Das wäre tödlich beim Wiener Walzer.

STANDARD: Wurde extra geprobt, wegen der vielen neuen Stücke?

Welser-Möst: Ich saß neulich mit Konzertmeister Volkhard Steude zusammen, um die Bogenstriche durchzusprechen, damit wir ja keine Zeit verlieren. Wir müssen jede Minute ausnützen, damit dieses herausfordernde Programm in Fleisch und Blut übergeht. Auch Philharmonikervorstand Daniel Froschauer meinte, ich hätte es ihnen ganz schön schwer gemacht. Ich fand, es ist gut, wenn es Herausforderungen gibt.

STANDARD: Sind bei den Proben nur jene dabei, die dann spielen?

Welser-Möst: Ja, das wird ganz streng gehandhabt, sie wissen genau, dass sie besonders in der Auslage stehen. Es ist für sie das wichtigste Konzert des Jahres – schon aus ökonomischer Sicht und aus Reputationsgründen.

STANDARD: Wie bauen Sie die Dramaturgie des Konzertes auf, ist dieses am Ende geformt wie eine eigene Symphonie?

Welser-Möst: Es gibt Parallelen. Man nimmt Blöcke, sagen wir einmal vier Stücke, und sucht eine Entwicklungswelle hinzubekommen. Es braucht genügend Abwechslung, aber es muss innerhalb eines solchen Blocks auch Steigerungsmöglichkeiten geben. Wenn Sie den Anfang des zweiten Konzertteils nehmen: Isabella, die Ouvertüre von Suppè, ist lustig. Dann kommt der Walzer Perlen der Liebe von Josef Strauß, der wie ein langsamer Satz wirkt. Es folgt seine Angelica-Polka wie ein Scherzo und dann Eduard Strauß’ Polka Auf und davon als rauschendes Finale. Das ist dann ein Block, danach tritt der Dirigent ab.

STANDARD: Haben Sie viele Neujahrskonzerte gehört, was blieb Ihnen in Erinnerung?

Welser-Möst: Viele! Schon früher, als es noch kein Farbfernsehen gab und Willi Boskovsky dirigierte. Ich erinnere mich auch an das erste Konzert von Lorin Maazel, der Boskovsky abgelöst hatte, und man diskutierte und meinte teils, so könne man das doch nicht dirigieren. Hervorheben würde ich die Konzerte von Herbert von Karajan und Carlos Kleiber. Ich hatte ja das Glück, als 19-Jähriger Karajan vorgestellt zu werden. Irgendwie hatte er an mir, wie man so sagt, einen Narrn gfressen. Ich war einer der wenigen, die in alle seine Proben durften. Ich saß da oft ganz allein drin und habe auch historische Momente erlebt. Zum Beispiel, als sein Konflikt mit den Berliner Philharmonikern so richtig explodierte.

STANDARD: Wie kann man sich die unangenehme Situation im Detail vorstellen?

Welser-Möst: Die Berliner Philharmoniker haben Karajan angebrüllt, das war in Salzburg während der Lohengrin-Proben! Ich saß direkt hinter ihm und bin in meinem Sessel verschwunden. Na ja. Jedenfalls, sein Konzert war besonders. Er war da schon ein sehr gebrechlicher alter Herr, aber mit welcher Hingabe er sich dieser Musik gewidmet hat! Unerreicht bleibt natürlich das erste Konzert von Carlos Kleiber. Wie der es hinbekommen hat, die Musiker zu elektrisieren! Dieses Rauschhafte war immens. Ich saß vor dem Fernseher und hatte richtig Bauchweh, so intensiv war das, was Kleiber da geschafft hat.

STANDARD: Wie halten Sie es diesmal mit der Rede und den Scherzen? Es sind nicht gerade lustige Zeiten.

Welser-Möst: Scherze wird es keine geben. Es wird eine kleine Rede geben, wir warten aber bis zum Schluss. Es wird nichts vorgefertigt, wer weiß, was in dem Jahr in der Welt noch passiert.

STANDARD: Wie verbringen Sie den 31. 12.? Ausgiebiges Feiern wäre der Konzentration wohl abträglich ...

Welser-Möst: Am 31. 12. ist das Silvesterkonzert, dann gehe ich nach Hause, warte, bis das Adrenalin unten ist, und gehe ins Bett. Am 1. Jänner muss ich ja liefern. Nach dem Neujahrskonzert und dem offiziellen Lunch mit den Sponsoren kann man es schon ein bisschen sausen lassen. Da fällt ja dann auch die Spannung ab, da soll man dementsprechend ordentlich feiern. (INTERVIEW: Ljubiša Tošic, 23.12.2022)