Das Empfinden für das, was man für gerecht oder ungerecht hält, kann je nach Standpunkt sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.

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Dass auf Erden völlige Gerechtigkeit nicht herzustellen ist, ist eine Erkenntnis, die schon vor Jahrtausenden verbreitet gewesen ist. Das Alte Testament ist voll von Hinweisen darauf. Jesus Christus, dessen Geburt dieser Tage gefeiert wurde, kritisierte die bestehenden Unterschiede scharf – und nicht nur im Christentum leben Gläubige in dem Vertrauen, dass es im Jenseits gerechter zugehen wird. Zur Religiosität gehört auch das Bemühen, sich hienieden um der Gerechtigkeit willen anzustrengen, auf dass man im Himmel ein Leben in Fülle genießen kann.

Annäherung an das himmlische Ideal

Aber warum erst im Himmel? Säkulare Weltverbesserer, Ideologen und Politiker versprechen uns gerne eine Annäherung an das himmlische Ideal womöglich noch zu unseren Lebzeiten. Und sie schärfen, oft vereint mit Exponenten der Religionsgemeinschaften, unseren Blick für echte und vermeintliche Ungerechtigkeiten in unserer Lebenswelt. Wobei das Empfinden für das, was man für gerecht oder ungerecht hält, je nach Standpunkt sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Und das Bewusstsein dafür wird – anders als man das im 19. Jahrhundert vermutet hat – nicht nur durch die eigenen Lebensumstände geprägt, sondern auch durch Medienkonsum und politische Propaganda.

Das erklärt, warum in Österreich seit vielen Jahren eine Mehrheit der Meinung ist, dass es hierzulande alles in allem ungerecht zuginge: Mit der Ausbreitung (angeblich) sozialer Medien und dem Auftreten von Meinungsblasen ist dieses Gefühl noch stärker geworden, wie ein Langzeitvergleich der Market-Umfragen im Auftrag des STANDARD zeigt. Dieser Langzeitvergleich zeigt übrigens auch, dass das Gefühl der Ungerechtigkeit in der Zeit der FPÖ-Regierungsbeteiligung zurückgegangen ist – da wusste ein Teil der freiheitlichen Wählerschaft plötzlich nicht mehr, ob die langjährige Erzählung von einem Land, das den Bach hinuntergeht, unter einem Vizekanzler Heinz-Christian Strache vielleicht außer Kraft gesetzt ist, und wählte bei der Frage nach der Gerechtigkeit die Antwortoption "unentschieden".

Das Misstrauen ist voll da

Das ist vorbei. Und das Misstrauen ist voll da: Wenn oft genug behauptet wird, dass in diesem Land zu viel für Zuwanderer getan werde, dann glaubt das beinahe die Hälfte der Wahlberechtigten mit übertriebenem Eifer – und ein anderer, deutlich kleinerer Teil nimmt wahr, dass die Politik hier eher zu wenig tut.

Noch stärker polarisieren sexuelle Minderheiten sowie Künstler: Die meisten FPÖ-Anhänger, aber auch viele aus der Wählerschaft anderer Parteien haben das (kaum durch Fakten zu stützende) Gefühl, dass diese politisch überrepräsentiert wären. Gleichzeitig denken viele (wiederum nicht nur Freiheitliche, deren Wählerschaft aber in besonderem Maß), dass sich die Politik "für Menschen wie ich selbst" zu wenig engagiere. Immerhin ein Viertel der Wahlberechtigten fühlt sich unterrepräsentiert.

Auftrag an die Politik

Dabei ergibt die Frage, ob man persönlich gerecht behandelt würde, eine erfreulich hohe Zustimmung: Ein Hinweis darauf, dass es hierzulande im Allgemeinen doch nicht so schlimm zugeht wie aufs Erste vermutet. Das zu kommunizieren ist ein Auftrag an die Politik. Das setzt aber voraus, dass die politischen Akteure einander ein Grundvertrauen entgegenbringen, dass auch das Gegenüber es gut meint und (bei aller Uneinigkeit über den vermeintlich richtigen Weg) nach Gerechtigkeit strebt. (Conrad Seidl, 27.12.2022)