Falsch verstandener Individualismus als Gefahr für die Allgemeinheit? Eine Querdenker-Demo.

Imago

Trifft man sogenannte Querdenker bei Kaffee und Streuselkuchen zum Gespräch, erhält man Auskünfte, die einen seltsam vertraut anmuten. Tatsächlich braucht es Zeit, bis Angehörige aus den Alternativmilieus vom Leder ziehen. Erst dann bekommt man das Erwartete zu hören: "Bill Gates und Big Pharma" sind es, die verpflichtende Impfungen gegen Covid durchsetzen wollen. Gates und Co beabsichtigen, den Menschen Chips zu implantieren.

Hinter allen pandemischen Maßnahmen stehe ein undurchsichtiger Block, gebildet aus Regierungen und anderen "wahren" Machthabern. Dunkle Mächte haben fusioniert, um die stressgeplagten Individuen in der spätmodernen Gesellschaft zu düpieren und um Kontrolle über sie auszuüben. Im Fokus der Ausbeuter steht das seit Anbeginn der Aufklärung kostbarste Gut: die Freiheit, die seit Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert "leitende Imago der Moderne".

Pikantes Naheverhältnis

1.150 Personen haben der Soziologe Oliver Nachtwey und seine Kollegin Carolin Amlinger im Rahmen eines Basler Forschungsprojektes per Fragebogen erfasst. Die 40 zusätzlich geführten qualitativen Interviews bilden das empirische Herzstück des ungemein aufschlussreichen Befundes Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus. In diesem wahrhaft nicht wegzuwischenden Wälzer entsteht das alarmierende Bild eines Naheverhältnisses. Die Vertreter des linksliberalen "juste milieu" sind nichts anderes als Brüder und Schwestern der zorngeschwellten Empörer.

Packt man den ganzen Covid-Komplex beiseite, entsteht das Bild einer untröstlichen Enttäuschung. Im Kern jener unseligen Psychodynamik, die aus mild temperierten Bürgerinnen Heißsporne macht, Radikale und Wirklichkeitsleugner, sitzt, als nicht zu verwindendes Leid, die Kränkung. Amlinger/Nachtwey betreiben Ideologiekritik. In der Nachfolge von Adorno und Horkheimer rekonstruieren sie die unaufhebbar ineinander verwobenen Komplexe von Freiheit und Repression. Wirksam wird das ebenso verwirrende Zusammenspiel von individueller Entfaltung und Versagung. Anstatt endlich tun und lassen zu können, was man will, wird einem das Lustprinzip von den Instanzen der Gesellschaft auch noch vergällt: und zwar zum vermeintlich eigenen Besten.

Doch die Idee, frei zu sein von gesellschaftlichen Zwängen, schädigt nun ausgerechnet das Miteinander. Die Teilnehmer der spätmodernen Gesellschaften müssen sich, um in den Augen anderer etwas zu gelten, unausgesetzt "singularisieren". Prompt "verdinglicht" sich ihre Vorstellung von Freiheit. Sie verlernen Rücksichtnahme und Solidarität.

Libertär-autoritär

Das hehre Gut der Selbstverwirklichung wird zum privaten Besitztum: eifersüchtig gehütet vor den Instanzen staatlicher, überpersönlicher Macht. Letztere wird von den einfachen Gemütern unter den Quer- und Andersdenkern mit Juden, Muslimen, Migranten oder "Bilderbergern" identifiziert.

Dabei richtet sich der libertär-autoritäre Protest gegen die spätmoderne Gesellschaft, jedoch ausdrücklich im Namen ihrer zentralen Errungenschaften, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. "Verquere" Fronten werden gebildet. Herrschaftskritik, einst nobelstes Anliegen der Zu-kurz-Gekommenen und aller in ihrem Namen Sprechenden, wird "schiefgestellt".

Abstiegserfahrungen

Das erstaunliche Verdienst von Nachtwey und Amlinger besteht in einer Art Neubesinnung: Produktiv gemacht werden einmal mehr die leitenden Prinzipien der Dialektik der Aufklärung. Die Demokratie, so scheint es, hält in den Augen skeptischer Befürworter ihre zentralen Versprechen nicht ein!

Hinzu kommt eine besonders vergiftete Frucht, die der Selbstermächtigung. Die Erkenntnisse der Wissenschaft, ohnehin nur von Expertinnen lesbar, erreichen längst nicht mehr alle Endverbraucher. Prompt stützen kritische Geister ihr Dafürhalten auf die eigene Intuition. Und drehen den staatlichen Impfexperten eine lange Nase.

Es ist ein weiter Weg, bis aus lediglich unzufriedenen Bürgern "regressive Rebellen" werden. Deren Erleben wird von Brüchen, Krisen und Abstiegserfahrungen geprägt. Sie verkörpern eine absolute Form der Antipolitik: Selbsthass leitet sie. Und verwandelt sich in einen unbändigen Hass auf alles Fremde. Mit diesem Sozialtypus, so wissen auch Amlinger und Nachtwey, werden wir es noch auf lange Zeit hin zu tun bekommen. (Ronald Pohl, 28.12.2022)