KUNST:

Power-Duo: Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl auf der Biennale.
Foto: Christian Benesch

1. Biennale Mit der Hauptausstellung The Milk of Dreams gelang Kuratorin Cecilia Alemani ein starker Auftritt. Bei der 59. Ausgabe der Venedig-Biennale setzte sie einen Schwerpunkt auf weibliche und nicht genderkonforme Positionen. Passenderweise wurde Österreich von Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl vertreten. Hohe Kunst!

2. Abstrakter Expressionismus Mit Ways of Freedom gelang der Albertina modern eine fulminante Herbstausstellung. Österreichische Malereigranden wie Wolfgang Hollegha und Maria Lassnig teilen sich die weitläufigen Hallen mit internationalen Giganten wie Helen Frankenthaler, Lee Krasner und Mark Rothko.

3. Skandal Für Wirbel in der österreichischen Kulturlandschaft – und darüber hinaus – sorgte die Geschichte um einen von André Heller gebastelten Rahmen. Dieser wurde als ein Original des Künstlers Jean-Michel Basquiat angepriesen und von Heller später zurückgekauft. Im Fall dieses "Bubenstreichs" (Heller) laufen Ermittlungen.

4. Videokunst Das Museum der Moderne Salzburg setzte im Sommer die poetischen und metaphorischen Werke von Bill Viola in ein mystisches Labyrinth aus Dunkelheit. Und es widmete dem renommierten US-amerikanischen Videokünstler seine erste museale Einzelschau in Österreich. Sound, Visualität und starke Botschaften inklusive.

5. Documenta Die Weltkunstschau in Kassel zählt wohl zu den meistbesprochenen Kunstevents 2022. Die Gründe? Antisemitismusvorwürfe, problematische Motive und misslungene Kommunikation. Das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa lud vor allem andere Kollektive ein – Diskurs war bestimmend, Ästhetik zweitrangig.


LITERATUR:

Mit Schnauzbart und Kleid nahm Kim de l'Horizon im Oktober als erste nonbinäre Autorenperson den Deutschen Buchpreis entgegen. Nach der Verleihung wurde de l'Horizon gefeiert, aber auch angefeindet.
Foto: APA/Dedert

1. Kim de l'Horizon "Blutbuch" wurde heuer mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Ist es deshalb das beste Buch des Jahres? Jedenfalls ist es ein wichtiges und höchst aktuelles. Der autobiografisch grundierte Roman der 30-jährigen Schweizer Autorenperson Kim de l'Horizon handelt von einer Non-Binarität und queerer Selbstbehauptung. Davon kommt 2023 sicher mehr.

2. Mircea Cărtărescu Mit einem als Erzählband getarnten Roman entwirft der rumänische Meisterprosaist das Bild einer Welt (fast) ohne Menschen. Abgelegte Hautsäcke hängen wie Kleider im Kasten, die Eltern verschwinden in Landschaften aus ewigem Eis – es geht zu wie bei Hans Christian Andersen. "Melancolia" begehrt auf wider die gefrosteten Verhältnisse.

3. Ziegel Bemerkenswerte dicke Bücher gab es viele: von Michel Houellebecqs zärtlichem Vernichten über Nino Haratischwilis Postsowjetroman "Das mangelnde Licht", Sibylle Bergs Krisendiagnose "RCE" und Uwe Tellkamps umstrittenem "Der Schlaf in den Uhren" bis zu Robert Menasses EU-Roman "Die Erweiterung". Der luftigste Ziegel? Wolfram Lotz gewitzte Notizen in "Heilige Schrift I".


FILM:

Jung in Los Angeles: Cooper Hoffman und Alana Haim in "Licorice Pizza".
AP

1. Licorice Pizza Alana Haim und Cooper Hoffman, zwei große Neuentdeckungen von US-Regisseur Paul Thomas Anderson – mit unendlich viel Charme. Ein blutjunger Hustler und eine Slackerin, die nichts mit sich anzufangen weiß. Jugendliches Driften, Musik, Farben, Bewegung und eine Rückwärtsfahrt im Lkw. Grandioses Kino.

2. Pacifiction Der Katalane Albert Serra erzählt von undurchschaubaren Intrigen auf einer Südseeinsel: Vor Aperol-farbenen Sonnenuntergängen folgt man dem "High Commissioner" Benoît Magimel dabei, wie er Ordnung im längst faulen Paradies bewahren will. Eine entschleunigte Politparabel zwischen Paranoia und Dekadenz.

3. The Batman Besser noch als Nolans war Matt Reeves' Adaption des düsteren DC-Stoffs. Robert Pattinson in seiner Paraderolle als trister junger Erwachsener, Zoe Kravitz als hippe Catwoman und Pinguin Colin Farrell in fantastischer Maske. Eine der aufregendsten Verfolgungsjagden und das melancholischste Ende seit Chinatown.

4. Aftersun So souverän, so bewegend war kein anderes Debüt des Jahres: Die Schottin Charlotte Wells erinnert sich an Fragmente eines Urlaubstrips in die Türkei. Paul Mescal ist der junge Vater, Frankie Corio die elfjährige Tochter, beide betören durch ihren hilflosen Wunsch nach Bindung. Alles ist fragil, alles wird sich zu schnell ändern.

5. The Northman / Memoria Zweimal Urknall: einmal ins Absurde gewendete Männlichkeit von Robert Eggers, der Shakespeare mit Skandi-Wikinger-Kino verbindet; einmal spirituelles Kino von Apichatpong Weerasethakul, das nach der Herkunft eines Geräuschs fragt und im Dschungel Kolumbiens den Atem der Welt entdeckt.


DEBATTE:

Anstoß für allerlei Deutungsmanöver: der russische Präsident und Kriegsführer Wladimir Putin.
Foto: APA/Danichev

1. Putinismus Der beispiellose russische Angriffskrieg auf die Ukraine setzte nicht nur in Europa und in den USA die Deutungsmaschinen in Gang. Woher rührt Wladimir Putins übermächtiges Sendungsbewusstsein? Wird sich Russland von dem Aderlass, den es durch den Auszug seiner oppositionellen Intellektuellen erfährt, jemals wieder erholen?

2. Dekolonisierung Die Notwendigkeit, das an den Ländern des Globalen Südens begangene Unrecht wiedergutzumachen, hat die Frage nach "historischer Ungerechtigkeit" neu geschärft. Historiker wie Egon Flaig rufen zur Unterscheidung auf: Nicht jedes "historische Übel" könne heute, im Ton moralischer Besserwisserei, angemessen gesühnt werden.

3. Winnetou Die Selbstbeknirschung des Ravensburger-Verlags hat den wilhelminischen Spannungserzähler Karl May nachträglich in ein schiefes Licht gerückt. Hat sich der Sachse des Vergehens der "kulturellen Aneignung" schuldig gemacht? Und wie viel Herablassung verträgt das Bild von der "edlen", naturvölkisch gezähmten "Rothaut"?


THEATER:

Der Alltag eines depressiven Schriftstellers kann ganz schön witzig sein: Claudia Bauer hievte Ernst Jandls Texte mit Slapstick, zünftigen Duetten, Opern- und Sprechgesang auf die Bühne.
Foto: Volkstheater

1. humanistää! Der Sensationserfolg am Volkstheater Wien feiert bald ersten Geburtstag und hat 2022 massig eingeheimst. Die knallige und zugleich voller Spürsinn gearbeitete Ernst-Jandl-Arbeit glänzte beim Theatertreffen, gilt als "beste Aufführung im deutschen Sprachraum". Und bekränzte Schauspieler Samouil Stoyanov mit Lorbeer.

2. Einstein on the Beach Regisseurin Susanne Kennedy ließ das Publikum mit Philip Glass' Antioper tausende Jahre in die Zukunft blicken. Ihre Bühnenlandschaft aus purem Computerbarock gab einen faszinierenden Meditations- und Anschauungsraum ab und war ein Highlight der Wiener Festwochen. Kinder waren ebenso beglückt.

3. Faarm Animaal Das Schauspielhaus Wien zeigte im Herbst noch einmal, was es draufhat. In Tomas Schweigens George-Orwell-Paraphrase müht sich eine Workshopgruppe auf dem Land in streberisch-brutaler Manier ab, den Seinszustand Mensch abzulegen. Eine superkomische Arbeit, die die Gattung Antislapstick erfunden hat.

4. Adern Im Schatten einer weiblich konnotierten Landschaftserhebung ("die Berg" genannt) fristen wortkarge Menschen ihr Dasein. Lisa Wentz' Volksstück enthält einen poetischen Abriss heimischer Nachkriegsgeschichte. Im Blickkontakt mit Horváth entsteht im Wiener Akademietheater reine Tiroler Poesie (Regie: Daniel Bösch).

5. Homemade RC Toy Die koreanische Choreografin und Tänzerin Geumhyung Jeong war mit ihren selbstgebauten Robotern das Performance-Highlight beim Impulstanz-Festival. Die Künstlerin und lizenzierte Baggerfahrerin lotet das Wechselspiel zwischen Mensch und Maschine, Körper und Objekt, Prothese und Robotik hinreißend aus.


MUSIK:

Der neue britische Pop-Superstar Harry Styles brach heuer diverse Rekorde.
Foto: AP/Sykes

1. Harry Styles Als Filmschauspieler, etwa in "My Policeman", muss der genderfluide Popstar noch etwas an sich arbeiten. Mit dem Album "Harry's House" und einer gefeierten Rekordtournee war er heuer allerdings unschlagbar.

2. Beyoncé feierte mit ihrem Album Renaissance die Geschichte der Tanzmusik unter besonderer Berücksichtigung von Black Music. Wer geschmacklich auf Nummer sicher gehen wollte, sah das als Album des Jahres.

3. Rosalía Die 30-jährige Spanierin führte mit ihrem Album "Motomami" den elektronischen Flamenco-Pop zum Welterfolg. Sie erweitert ihn mit Reggaeton, japanischer Kawaii-Kultur und Billie Eilish. Das wird groß.

4. Queen Elizabeth II. Anlässlich ihres 70-jährigen Thronjubiläums im Juni trank sie Tee mit Paddington-Bär. Elton John und Queen sangen für sie. Beim Begräbnis im September schaute die Welt zu. Mehr Pop geht nicht.

5. Taylor Swift Eine weitere Frau bestimmte 2022. Der anämische US-Star inszeniert sich zunehmend als Madonna unserer Tage. Allerdings muss man Sex, Charisma und das gewisse Etwas abziehen. Vielleicht deswegen ... (Kulturredaktion, 28.12.2022)