Karl Markovics vertraut beim Spielen ganz auf sein Gefühl.

Foto: Studiocanal / Frank Dicks

Karl Markovics hat das unverwechselbarste Gesicht des österreichischen Films. Im kommenden Jahr wird der Schauspieler und Regisseur sechzig Jahre alt. In der zu Neujahr im Kino anlaufenden Verfilmung Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky spielt er die Rolle des heimlich verliebten Optikers. DER STANDARD hat ihn zum Gespräch über große Gefühle, dreißig Jahre Kinokarriere und manische Regisseure getroffen.

STANDARD: Dem Film von Aron Lehmann gelingt das Kunststück, in einer dörflichen Fantasiewelt mit den ganz großen Gefühlen zu spielen, ohne in Kitsch abzudriften. Was hat Ihnen an dem Stoff zugesagt?

Markovics: Genau das, was Sie beschreiben. Ich dachte mir, wenn es gelingt, das, was sich mir im Drehbuch vermittelt, im Film umzusetzen, dann wird das ein ganz besonderer Film. Zumal es ein deutschsprachiger Film ist, denn in Deutschland eine Geschichte zu erzählen, bei der das Risiko von Gefühlsduselei oder oberflächlichem Getue groß ist, ist ein schmaler Grat.

STANDARD: Sie hatten also keine Angst vor Gefühlskino?

Markovics: Überhaupt nicht. Ich finde diesen Film so enorm wichtig, weil er guttut. Gefühle tun gut. Wir wollen und wir müssen berührt werden. Ich halte es für eine Krankheit unserer Zeit, das klingt jetzt übertrieben, dass so eine panische Angst vor Rührung, Berührung besteht. Ich kann, ich muss jemanden berühren, um ihn ergreifen zu können. Im deutschsprachigen Raum hat der Nationalsozialismus dieses Trauma hervorgerufen, sich ja nicht durch Gefühle manipulieren zu lassen. Doch Kunst ist immer Manipulation. Es kommt darauf an, was ich unter Manipulation verstehe. Entweder als Option oder als Vorgaukeln einer irreführenden Wirklichkeit. Für mich ist sie Ersteres.

STANDARD: Der Film thematisiert aber auch ganz reale Probleme, vor allem psychische. Ihre Figur, der Optiker, hört Stimmen. Haben Sie sich vorher über dieses Leiden informiert?

Markovics: Ich mache so etwas nie. Ich vertraue da meinem Gefühl und dem Drehbuch. Je unverkrampfter ich an diesen Charakter herangehe, an einen Menschen, der alles in sich trägt, zurückhält, desto glaubwürdiger wird er. Die einzige Ausnahme bilden Rollen, die eindeutig Menschen abbilden, die gelebt haben und die jeder kannte. Ich habe eine große Scheu vor solchen Rollen.

STANDARD: Vor dreißig Jahren begann mit "Indien" Ihre Kinokarriere. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Markovics: Ich hatte das Glück, dass ich mit extrem unterschiedlichen Regisseuren und Regisseurinnen arbeiten durfte. Woran ich wahnsinnig gern zurückdenke, ist Late Show von Helmut Dietl. Ein großartiges Drehbuch, das dann nicht wirklich aufgegangen ist. Dietl war einer der spannendsten, wichtigsten, besessensten Regisseure. Unangenehm privat, teilweise gnadenlos, aber du wusstest, wie genau er schaut und wie genau er einen falschen Ton detektiert. Diese Genauigkeit im Sehen, im Hören und im Einfordern fand ich faszinierend. Wenn ich das mit meinem Miniauftritt in Wes Andersons Grand Budapest Hotel vergleiche, liegen da Welten dazwischen. Wes Anderson hatte eine ganz andere Art des Schauens, forderte ein anderes Spielen ein. Das zieht sich bis zu meinen jüngsten Arbeiten quer durch. Etwa bei Der Fuchs von Adrian Goiginger. Ein junger, manischer Regisseur, besessen und gleichzeitig von einer großen menschlichen Herzlichkeit. Wenn ich merke, es macht jemand keine Kompromisse, da kann der Mensch noch so unangenehm und schwierig sein, dann hat er mich an seiner Seite.

STANDARD: Apropos schwierige Regisseure. Wie sehen Sie die Diskussionen um ethische Standards bei Drehs?

Markovics: Ich finde in erster Linie die Diskussion wahnsinnig wichtig: MeToo, ethische Grundsätze, das Nivellieren von Hierarchien in der Umgangsform. Organisatorischer Hierarchien bedarf es, Film ist nicht basisdemokratisch. Jedenfalls ist das unvorstellbar für einen Mann aus meiner Generation. Allein damit, dass wir – verärgert jedes Mal – überlegen müssen: Wo setze ich jetzt den Doppelpunkt und wo setzte ich das "innen", ist schon etwas erreicht. Ich kann die Diskussionen voll und ganz unterstützen, denn ich merke, es tut sich etwas.

STANDARD: Glauben Sie, dass noch immer Platz ist für manische, schwierige Regiefiguren?

Markovics: Ja, ganz sicher. Wenn man Menschen glaubhaft vermitteln kann, warum man sich für etwas abquält, dann sind sie auch bereit, an einem Strang zu ziehen. Womit man sich nicht abquälen darf, sind persönliche Erniedrigung, um ein anderes Ego zu erhöhen, Gedankenlosigkeiten, Zwei-Klassen-Gesellschaften, die man heute auch noch an Sets findet. Dann hört sich jedes Verständnis auf. Aber Manie wird immer eine treibende Kraft in der Kunst bleiben. (Valerie Dirk, 29.12.2022)