Ein Ende ohne Gewaltexzesse: Menschen feiern im November 1989 auf der Berliner Mauer das Ende der DDR.

Bundesarchiv / Klaus Lehnartz

Im Sommer 1989 blickte die Welt nach China. Dort hatte sich eine starke Demokratiebewegung gebildet, die schließlich im Juni gewaltsam niedergeschlagen wurde. Der Platz am Tor des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) wird seither mit einer gescheiterten Revolte assoziiert – und mit einem Regime, das keinerlei Kompromisse mit dem Volk zu schließen bereit ist.

Als später in diesem Jahr in der DDR auf immer größeren Demonstrationen grundlegende Reformen für den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat gefordert wurden, blieben die Ereignisse in Peking die ganze Zeit im Hinterkopf. Denn auch in Ostberlin, in Dresden oder in Leipzig war mit Gewalt zu rechnen. Das lehrten die historischen Beispiele Prag 1968 und Ungarn 1956.

Friedliche Revolution

Doch die deutsche Revolution blieb, wie auch die meisten anderen Umstürze in Osteuropa in diesem Jahr, friedlich. Die Geschichte nahm damals einen überraschenden Weg. Und so macht es Sinn, dass dieses Kapitel nun am Eingang einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin steht, die sich mit denkbaren Alternativen im Geschichtsverlauf beschäftigt: Roads Not Taken.Oder: Es hätte auch anders kommen können.

Konzipiert wurde die Schau von Dan Diner, einem Spezialisten für die Universalgeschichte, also für einen umfassenden, synthetischen Blick auf Ereignisse, die in der Historiografie oft getrennt voneinander behandelt werden. Sein Buch Ein anderer Krieg über eine globale Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg erwies sich 2021 als eine fulminante Zusammenschau eines oft sehr stark aus europäischer Sicht erzählten Geschehens.

Die Frage, warum es in Deutschland 1989 friedlich blieb, kann Roads Not Taken allerdings nicht mit letzter Schlüssigkeit beantworten. Die gezeigten Dokumente (Protokolle einer Volkskammer-Sitzung, Aufrufe von Schauspielern in Dresden, "aus den Rollen" herauszutreten, und vieles mehr) bezeugen einfach ein kleinteiliges Geschehen, bei dem die verschiedenen Kräfte so ineinandergriffen, dass Erich Honecker, der Vorsitzende des Staatsrats, abgewählt und nicht getötet wurde.

Unberechenbare Weltgeschichte

In Rumänien erging es dem Despotenpaar Ceaușescu anders, der Prozess und die Hinrichtung wurden 1989 zu einem der großen Weihnachtsdramen für ein gebannt folgendes Publikum – ausnahmsweise war einmal nicht der Fernsehmehrteiler das Tagesgespräch neben dem Christbaum, sondern die Weltgeschichte. Die erweist sich auch dann, wenn man sie auf kontrafaktische Potenziale hin untersucht, als unberechenbar und immer erst von hinterher aus schlüssig.

Deutschland hat seit dem 19. Jahrhundert viele Straßen nicht "genommen" – das ist der Zeitraum, den die Ausstellung behandelt, die schrittweise bis zu den Revolutionen von 1848 zurückgeht. Die Präsentation nimmt dabei den Grundgedanken auf und lädt bei jedem Datum dazu ein, einen Schritt zur Seite zu machen.

Interessant auch für Österreich ist das Jahr 1952, aus dem Diner die Stalin-Note hervorhebt – ein Vorschlag, das damals bereits geteilte Deutschland könnte sich wiedervereinigen: unter Voraussetzung der Neutralität, also des Verzichts auf eine Wiederbewaffnung. Gerade in der SPD wurde darüber ernsthaft diskutiert. Man kann trefflich darüber spekulieren, was das für den österreichischen Staatsvertrag bedeutet hätte, wenn Deutschland vor Österreich den Weg in die Neutralität gegangen wäre.

Und vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs kann man generell darüber nachdenken, wie die Vorstellung von Einflusszonen sich von damals bis heute verändert hat, ohne jedoch zu verschwinden.

Keine Nuklearbombe

Eine besonders gelungene diagrammatische Darstellung rekonstruiert den Verlauf des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang mit der Entwicklung der Atombombe – dass Europa von einer Nuklearbombe verschont blieb, ist auch eine der "nicht genommenen" Straßen, bei denen Diner hervorhebt, dass es durchaus auch anders hätte sein können.

Einer der markantesten Punkte in der Schau ist naturgemäß das Hitler-Attentat von 1944, das schon seines Ereignischarakters wegen wie ein Würfelwurf der Weltgeschichte erscheinen kann.

Faktor Zufall

Diner verknüpft dabei das Scheitern des Widerstands vom 20. Juli mit dem jüdischen Maler Felix Nussbaum, der kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz noch einen Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz) fertigstellte. Dass Hitler damals überlebte, brachte sehr vielen Menschen in einem weiteren verheerenden Kriegsjahr den Tod.

Nicht immer sind es also menschliche, intentionale Akte, auf denen historische Wendepunkte beruhen – auch der Zufall spielt eine Rolle, damit muss man sich abfinden.

Geschichtsschreibung in Alternativen ist auch eine Übung in Demut. Es gibt keinen Weltgeist, der hinter dem Chaos einen Masterplan durchzieht, es gibt nur die Bemühungen der Vernunft, sich hinterher Rechenschaft abzulegen darüber, was war – und was hätte sein können. Die Ausstellung Roads Not Taken legt davon mustergültig Zeugnis ab. Eine Publikation dazu erscheint im Frühjahr. (Bert Rebhandl aus Berlin, 31.12.2022)