Die "Zeit" hatte die gute Idee, einige bekannte Journalist(inn)en und Publizist(inn)en nach ihren Irrtümern zu fragen. Einer bekannte, er habe Olaf Scholz unterschätzt, eine, sie habe Ursula von der Leyen überschätzt, und so.

Ein Überfliegen der eigenen Kolumnen des abgelaufenen Jahres ergibt als größten "Irrtum" jenen vom 23. November, wonach die Migration das entscheidende politische Thema wäre. Das stimmt nicht, aber dann wieder doch. Umfragen der letzten Zeit haben ergeben, dass den Österreicherinnen und Österreichern Themen wie Teuerung wichtiger waren. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass Zuwanderung, Asyl und die damit verbundenen Probleme eine Art Grundrauschen in der politischen Debatte darstellen. Vor allem, weil sie von Parteien wie der FPÖ und zuletzt wieder der ÖVP mehr oder weniger willkürlich hochgespielt werden.

Seriöser Journalismus

Womit wir beim eigentlichen Thema sind. Irrtümer in der Beurteilung von aktuellen Themen und Sachverhalten sind auch bei gewissenhaftem Vorgehen manchmal nicht zu vermeiden. Die eigentliche Frage, die sich seriöse und verantwortungsbewusste Journalisten stellen sollten, ist jene, ob wir immer oder auch nur die richtigen Themen behandeln. Ob sehr vieles in diesem Land nicht "underreported" ist. Viele von uns kümmern sich zu sehr um "Politik-Politik". Was wer zu wem gesagt oder gegen ihn/sie getan hat. Wer was wird. Höherer Tratsch. Muss auch sein, aber es gibt zu viel davon.

Wobei – kleiner Einschub – Teile des seriösen Journalismus gefährdet sind wie nie zuvor. Stichworte: ungewisses Schicksal für "Profil", Selbstdemontage wichtiger Chefredakteure in "Presse" und ORF, mögliche existenzielle Bedrohung für den öffentlich-rechtlichen ORF selbst. Todesurteil für die "Wiener Zeitung". Wildwuchs an antidemokratischen Hassplattformen.

Manchen Themen wird von Journalisten und Journalistinnen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, manchen kaum.
Foto: Seywald

Vernachlässigte Themen

Davon ein andermal mehr. Hier geht es um Themen, die vernachlässigt werden:

Der Flächenfraß in Österreich. Verbauung, Versiegelung, Verschandelung. Ja, es gibt immer wieder Reportagen. Aber wirklich systematisch, wirklich anhaltend wird das nicht thematisiert. Vielleicht weil so viel dran hängt – ein Volk von Häuslbauern soll plötzlich darauf verzichten, die Landschaft mit netten Einfamilienhäusern und ihren toten Rasenvorgärten zu bedecken?

Oder, verwandtes Thema, das Artensterben. Insekten wurden früher als lästig empfunden, seit sie merkbar weniger und weniger werden, stellen sich doch Fragen.

Daran schließt sich die heikelste Frage von allen: Geht das lange so weiter mit der Art, wie wir Landwirtschaft betreiben?

Verantwortung

Oder: Ist die Struktur, wie Österreich verwaltet und regiert wird, noch zeitgemäß? Woher plötzlich die Überforderung des Gesundheitssystems, teilweise der öffentlichen Verkehrsmittel – und, jetzt sind wir doch wieder bei dem Thema – wie die Zuwanderung gestaltet und verwaltet wird?

Die Politik hat kein Konzept und überlässt der Verwaltung die Abschreckung der Zuwanderer durch bürokratische Schikanen. Was ohnehin nicht funktioniert. Österreich braucht Zuwanderung, aber die richtige; jene, die seit langem hier sind, aber keine Staatsbürger, müssen zu solchen werden (mit Wahlrecht). Das klarzumachen, wäre die Aufgabe einer verantwortungsvollen Journalistik.

Die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Anregungen aus Leserkreisen sind willkommen. Wenn man Politik kritisiert, dann muss man gelegentlich auch die eigenen Maßstäbe überprüfen. (Hans Rauscher, 30.12.2022)