Erst 32 Jahre alt, aber vielfach ausgezeichnet: der senegalesische, in Frankreich lebende Autor Mohamed Mbougar Sarr.

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Ein junger senegalesischer Autor sorgt 1938 in Paris für Aufsehen. 23-jährig veröffentlicht er einen Roman, wie man ihn noch nicht gelesen hat. Das Labyrinth des Unmenschlichen, so der Titel, "war zu pessimistisch und nährte die koloniale Ansicht eines finsteren Afrikas, eines Afrikas der Gewalt", lässt sich später darüber in Anthologien lesen. Ebenso, dass niemand die "mächtige Wahrheit" des Buches infrage stellen konnte. Es soll zur Hälfte und hoch kunstvoll aus Zitaten der Weltliteratur gewoben gewesen sein.

Was genau in dem Buch stand, erfährt man zwar nie. Wohl aber, dass es nach dem Plagiatsskandal aus dem Handel genommen worden sei. Dass alle Bestände vernichtet worden seien und seither niemand mehr vom Verbleib seines Autors T. C. Elimane wisse.

Elimane hat nicht wirklich existiert. Er ist eine Erfindung des 1990 in Dakar im Senegal geborenen Autors Mohamed Mbougar Sarr. Als rätselhaftes Zentrum seines Romans Die geheimste Erinnerung der Menschen erinnert Elimane aber in einigen Zügen an seinen Schöpfer: Auch Sarr ist im jugendlichen Alter zum Studium (Literatur, Philosophie) nach Paris gekommen. Anders als Elimanes hält Sarrs Erfolg aber schon seit vier Büchern an.

Puzzle über ein Verschwinden

Für Die geheimste Erinnerung der Menschen, deren jüngstes, erhielt er mit erst 31 Jahren 2021 den wichtigen Prix Goncourt. Auf knapp 450 Seiten setzt Sarr wie im Puzzle die Geschichte Elimanes aus einer Vielzahl von Erzählstimmen, Berichten, Briefen, Tagebucheinträgen, Archivfunden sowie Schilderungen aus erster und zweiter Hand zusammen. Dreh- und Angelpunkt ist der junge, in Paris lebende Senegalese und Schriftsteller Diégane. Er will alle Fragen um Elimane klären.

"Ein bedeutendes Buch erzählt immer nur von nichts, und doch steckt alles in ihm", heißt es an einer Stelle im Roman. So handelt die rund 130 Jahre umspannende Geschichte in Die geheimste Erinnerung der Menschen von vielem. Zwischen allem spielt Sarr das Schicksal schwarzer Autoren in einer weißen Umgebung, den Konflikt von Kolonialisierten und Kolonialherren im Kontext jeweiliger Figurenerfahrungen auf mehreren Zeitebenen durch.

Etwa anhand der Lebensgeschichte der 1888 geborenen Zwillingsbrüder Assane und Ousseynou, deren einer auf die Schulen der weißen Kolonisatoren geschickt wird "nicht um es den Weißen gleichzutun, sondern um sich zu verteidigen, wenn sie behaupten, ihre Art, die Dinge zu sehen, sei nicht nur die bessere, was fragwürdig ist, sondern die einzige". Er legt aber den senegalesischen Namen ab, zerbricht am Kontrast, zieht für Frankreich auf Europas Boden in den Krieg.

Elimane ergeht es zwei Jahrzehnte später wenig besser, wenn die französische Literaturkritik zwar einräumet, "dass die Kolonialisierung einige Bildungswunder in den Kolonien Afrikas vollbracht hat". Dass ein Afrikaner, "eine auf der Stufenleiter der Kultur kaum über einem Primaten stehende Kreatur", aber "imstande sein könnte, ein Buch wie dieses auf Französisch zu schreiben"? Nicht doch!

Anderen ist es zu wenig tropisch und exotisch. Ein Vorwurf, den Diégane nur an die afrikanische Autorengeneration der Mitte des Jahrhunderts richten würde: Sie hätte das Verlangen des europäischen Marktes nach einer afrikanischen Literatur gestillt, die "anders", zugleich aber für westliche Leser "verständlich" sein musste. Wiewohl er nicht umhinkommt zu erkennen, dass er nichts mehr als den "Ritterschlag" Frankreichs will.

Die Tür zum Übersinnlichen

Diese Darstellung soll nicht täuschen, der Roman erschöpft sich nicht in (post)kolonialistischer Problematisierung. Sarr erschafft in vielen, oft sehr kurzen Kapiteln auch ein menschliches Panorama. Mühevoll rekonstruiert Diégane die Entstehung des legendären Romans. Die Handlung führt neben dem kolonialen und heutigen Senegal, wo die junge Generation politischen Protest mit Selbstentzündung vorantreibt, in ein politisch gebeuteltes Argentinien und ins von den Nazis besetzte Paris. Eine Häufung von Todesfällen stößt die Tür zum Übersinnlichen auf. Es gibt witzige Szenen, und, wie anders in einer Geschichte im Autorenmilieu möglich, Einlassungen übers Schreiben und Verlegen. Letztlich sind alle Figuren auf mehrere Arten als erst angenommen miteinander verflochten.

Die geheimste Erinnerung der Menschen ist makellos. Wie die Lösung des Krimis um Elimane trotz aller Sprünge zwischen Zeiten, Orten und Erzählsituationen chronologisch abrollt, zieht mit. Der Taumel, den Das Labyrinth des Unmenschlichen hervorgerufen haben soll? Dieser Wurf vom Reißbrett ist gewiss steriler. Konstruktion und Wirkung aber beeindrucken. Zwar schreibt Sarr nur auf Französisch, das Buch hat er, um Balance bemüht, aber sowohl in einem französischen und einem senegalesischen Verlag veröffentlicht. So geht das! (Michael Wurmitzer, 3.1.2023)