Autor Tom Kummer vor leuchtendem Hintergrund anlässlich der Leipziger Buchmesse.

Foto: imago images/Gerhard Leber

Seit mindestens zwanzig Jahren erscheint kein Text über Tom Kummer, in dem nicht ein paar Eigenheiten des heute 61-jährigen Schweizer Journalisten und Autors erwähnt werden: seine "Borderlinestörung" ab den 1990er-Jahren sowie seine erfundenen Interviews mit Hollywoodstars für das SZ Magazin bis zur Jahrtausendwende, die er folgerichtig als "Borderline-Journalismus" verkaufte. Nachdem man ihm auf die Schliche gekommen war, musste er auch mal Tennisunterricht in Los Angeles geben, um sich und seine Frau Nina sowie die beiden Söhne durchzubringen – was sich in der Biografie aber gar nicht schlecht las! Bald schaffte es der breitbeinige Stehaufmann aber ohnehin wieder zurück in den Journalismus, bis man ihm abermals … "Whatever!"

Seit dem Tod seiner Frau Nina 2016 lebt Kummer wieder in Bern in der Schweiz. Ihre gemeinsame große Liebe thematisierte er 2017 im Roman Nina & Tom, 2020 folgte Von schlechten Eltern. Nun taucht Nina in Unter Strom als eine der beiden weiblichen Hauptfiguren wieder auf, oder sagen wir so: als das, was der Autor Tom Kummer uns über seine Ideen von "Die Frau als Baby und Sweetie" vermitteln wollte.

Sadomaso-Beziehung

Es ist der Sommer 1997, als die 32-jährige Nina, die als Kurzhaarvertreterin des "Heroin Chic" erkennbar dem optischen Ideal des Autors entspricht, wegen einer Bachelorette-Party aus Los Angeles in Zürich einfliegt. Dort am Flughafen holt sie Menschenrechtsanwältin Sarah, sechs Jahre älter als Nina und deren beste Freundin seit drogengeschwängerten Teenagerjahren, ab, mit einer Norton Commando 750 Jahrgang 1969 (Markennamen sind dem Autor wichtig). Nina hat starke Blutungen, welche auf ihr sadomasochistisches Sexualleben mit Tom zurückzuführen sind, Vergewaltigungen und blutunterlaufene Augen inklusive: "Schlag mich! Hau mir in die Fresse!" Sagt sie gerne zu ihm.

Der willige Schläger, Ninas in Los Angeles zurückgelassener Freund Tom, ist auch sonst ein Klischee der alten Schule: "Er hat Geld und Nina keins. Ohne ihn ist sie ein Fisch auf dem Trockenen." Eifersüchtig ist er obendrein, es treibt ihn der nicht unbegründete Verdacht, dass es zwischen seiner Nina und dieser Sarah "knistern" könnte. Was er freilich nicht weiß: dass "Sarahs eine Brustwarze nach Westen zeigt, die andere nach Osten". Wie das konkret aussehen könnte? "Whatever!"

Dicke Hose

Mit großer Klappe mischt er sich immer wieder als Beobachter und Kommentator in das Geschehen ein: Tom und Sarah zerren an Nina wie an einem Designerfetzen, sie wird einerseits wie ein Dummerchen behandelt ("Ach komm, Ninchen! Frag mich jetzt nicht, wer Judith Butler ist. Come on, baby!"), andererseits wie ein Sextoy. Dabei ist sie doch angeblich eine "tolle Fotografin". Aber auch diese schmückende Beigabe dient dem Autor lediglich dazu, sein eigenes Wissen auszustellen – Diane Arbus, Baby!

Die erfolgreiche Anwältin Sarah wiederum soll "Feministin, Menschenrechtlerin, Tugendwächterin" in einem sein. Aber anstatt sich dahingehend irgendwie glaubhaft zu engagieren, produziert sie fortwährend heiße Luft und führt dem Blutkreislauf Chemie zu, wenn sie nicht gerade an Sex mit Nina denkt und an die Party, zu der am Abend zahlreiche "Sisters" kommen werden.

Davor legt Nina aber noch die Motorradunterwäsche an und fährt mit der Norton in der Schweiz herum, macht eine Reise in die eigene Vergangenheit, gedrängt in ein paar nachmittägliche Stunden. Sie holt beim kaputten Vater ein paar Markenklamotten ab und steckt sich bei ihrer kaputten Mutter, die gerne etwas länger schläft, ein paar Deutsche Mark ins Höschen. In einer der besseren Szenen des Buches verliert sie sich in einem brennenden Wald. Dort ahnt man kurz, dass der Autor auch anders könnte, wenn er seine blutleeren Frauenfiguren nicht ständig mit dem eigenen Testosteron befüllen müsste.

Ungezügelte Party und Vergewaltigungssprüche

Die Party läuft aus dem Ruder. "Kampflesben" tanzen draußen unter Gewitterhimmel und pflügen den Garten um "wie eine Horde hungriger Wildschweine" , während sich Nina und Sarah drinnen im Darkroom des Kellers gegenseitig "fertigmachen". Der Kantonspolizist Schwägli hat dann so einen Saustall noch nie gesehen.

Zurück in Amerika wird unvermittelt noch ein bisschen Simone de Beauvoir verhandelt, bevor Tom sich an seinem "Baby" für die erlittene Kränkung rächt und ihm zeigt, wo der Hammer hängt: "You know, baby, I am filled with hate" ist sein bewährter Vergewaltigungsspruch.

Das erzählerische Talent und die "Einfühlsamkeit", die Kummer immer wieder angedichtet werden, hat man bis dahin vergeblich gesucht. Dafür hat man gänzlich unironisches und ungefiltertes Machotum gefunden. (Manfred Rebhandl, 4.1.2023)