Geometrische Kompositionen: Die Ölgemälde von Adnan leuchten umso mehr, als sie die Farbe direkt aus der Tube mit dem Messer auftrug.

VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf

Wenn du mir auf der Straße begegnest, sei dir nicht sicher, dass ich es bin. Mein Mittelpunkt liegt nicht im Sonnensystem", schrieb Etel Adnan in ihren unter dem Titel Im Herzen des Herzens eines anderen Landes erschienenen Lebensaufzeichnungen. Aus diesen Zeilen spricht die Stimme einer vielschichtigen transnationalen Biografie, in der Identität keine festgeschriebene und schon gar keine geografisch verankerte Kategorie ist. Adnan, 1925 in Beirut geboren und 2021 in Paris gestorben, war Kosmopolitin, Philosophin, Dichterin und abstrakte Malerin.

Als Letztere wurde sie wie so viele Künstlerinnen ihrer Generation spät entdeckt: Adnan war bereits 87 Jahre alt, als sie an der Kasseler Documenta 2012 teilnahm und damit die internationale Kunstwelt auf ihr malerisches Werk aufmerksam wurde.

Porträt von Etel Adnan in der Türkei, Winter 1973/74.
Foto: Simone Fattal

Seither haben die meist im Kleinformat gemalten, leuchtenden Farbgeometrien der Künstlerin groß Karriere gemacht. Doch es gibt daran noch ungeheuer viel zu entdecken, wie sich in der aktuellen Ausstellung im Lenbachhaus in München zeigt.

Koloniale Konflikte

Allein Adnans Weg zur Malerei ist ein Kapitel für sich und weist sie als bedeutende Mittlerin zwischen arabischer und westlicher Welt aus. Smyrna, das heutige Izmir, ist der Ausgangspunkt ihrer bewegten Biografie, dort lernen sich 1913 ihre Eltern – eine christlich-orthodoxe Griechin und ein aus Damaskus stammender, muslimischer Syrer – kennen.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs lässt sich das Paar in Beirut nieder, wo Etel Adnan mit einer Vielzahl von Sprachen, Kulturen und Religionen aufwächst. Ihr in Beirut begonnenes Philosophiestudium setzt sie in Paris, ab 1955 in Kalifornien fort.

Ihre künstlerische Ausdrucksform ist die Lyrik, die Sprache, in der sie ihre literarischen Texte schreibt, ist Französisch. Doch der Algerienkrieg stürzt Adnan in einen Gewissenskonflikt, sie will die Sprache der Kolonialmacht nicht mehr verwenden und findet in der abstrakten Malerei das "Äquivalent des poetischen" Ausdrucks. "Ich brauchte nicht mehr auf Französisch zu schreiben, ich wollte in Arabisch malen", notierte die Malerin einmal über diesen Wendepunkt, sie sollte trotzdem für viele weitere Jahrzehnte in erster Linie als Dichterin wahrgenommen werden, deren poetische Stimme stets auch politisch war.

140 Werke

Unter dem Eindruck des libanesischen Bürgerkriegs entstanden ihr einziger, in viele Sprachen übersetzter Roman Sitt Marie-Rose und die 59 Verse umfassende Arabische Apokalypse, in der sich die Schrecknisse des Krieges in gewaltvollen, fieberhaften Sprachblitzen entladen. In einem mit skizzenhaften Symbolen versehenen Typoskript der Arabischen Apokalypse laufen die verbalen und visuellen Fäden aus Adnans Œuvre zusammen; Gleiches gilt für frühe Schriftbilder, in denen die Künstlerin den Mond beschwört, und für die nach dem Vorbild japanischer Faltbücher entstandenen Leporellos, in denen sie eine ganz eigene Ausdrucksform fand.

Bestückt ist die von Sébastien Delot kuratierte Retrospektive mit mehr als 140 Werken, darunter auch großformatige Tapisserien und eben jene aus chromatischen Feldern, Quadraten, Kreisen und Horizonten komponierten Abstraktionen in Öl, die auch deshalb so eindringlich leuchten, weil Adnan die Farbe stets direkt aus der Tube mit dem Messer auftrug.

Besuch abstrakter Idole

Ganze Welten voll Licht und Wärme eröffnen sich da, doch wo die eine Sonne in rosa Farbmeeren versinkt, taucht in Adnans Dichtung eine andere blutgetränkt aus Krieg und Zerstörung auf.

"Im Malen drückt sich meine glückliche Seite aus, jene, die mit dem Universum eins ist", sagte die Künstlerin. Und wie einst Cézanne dem Mont Sainte-Victoire war auch Adnan einem Berg verfallen: Im kalifornischen Sausalito malte sie unzählige Variationen des Mount Tamalpais, ein besonderes Faible hegte sie außerdem für Klee und Kandinsky, von denen sich zahlreiche Werke in der Lenbachhaus-Sammlung befinden. Einige von ihnen sind in der Schau zu finden: eine schöne Ergänzung zu dieser gelungenen Retrospektive. Ab 1.4.2023 wandert die Gemeinschaftsausstellung in das K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen weiter. (Ivona Jelcic aus München, 5.1.2023)