Formal gesehen, ist alles schon einmal dagewesen: Es gab schon kürzlich einmal einen republikanischen Sprecher des US-Repräsentantenhauses, der sich auf Druck des rechtes Flügels der eigenen Partei zurückziehen musste, weil sonst alle parlamentarische Arbeit blockiert werden und zum Erliegen kommen würde. Paralyse total.

Nicht mehr als vier oder fünf Abgeordnete sind aktuell nötig, um die Arbeit des ganzen "House" zu blockieren.
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Das war im Herbst 2015, der Bedrängte war John Boehner aus Ohio. Lange wurde ein Nachfolger gesucht, der die Forderungen des "Freedom Caucus" – einer Gruppe extrem rechter Parteirebellen – mit den Vorstellungen der moderateren Kräfte und den Notwendigkeiten der Sachpolitik in Einklang bringen könnte. Schließlich bekam Paul Ryan aus Wisconsin den undankbaren Job. Er war der einzige republikanische Abgeordnete, der parteiintern, über alle Flügel hinweg, eine Mehrheit fand.

Hauchdünne Mehrheit

Tatsächlich alles dagewesen? Keineswegs. Denn damals verfügte die konservative "Grand Old Party" – sehr zum Leidwesen des demokratischen Präsidenten Barack Obama – über eine sehr komfortable, wesentlich größere Mehrheit als heute. Nicht neun (wie heute), sondern fast 50 Abgeordnete betrug damals der Polster; die Erlangung einer Mehrheit bei Kongressabstimmungen war im Wesentlichen nur eine Formalität – und die Positionen des "Freedom Caucus" bzw. der "Tea-Party"-Bewegung blieb in der Folge oft nur eine Marginalie.

Am Samstag aber hat es der im 15. Durchgang, von der eigenen Partei schließlich fast nur "gnadenhalber" gewählte neue Vorsitzende Kevin McCarthy mit einer ganz anderen, vergleichsweise knallharten Front im eigenen Lager zu tun. In den kommenden zwei Jahren – bis es neben einem neuen (oder im Amt bestätigten) US-Präsidenten auch wieder ein teilerneuertes Parlament geben wird – reicht bei jeder einzelnen wichtigen Abstimmung das Ausscheren von bloß vier oder fünf Abgeordneten in der republikanischen Mehrheitsfraktion, um für Stillstand zu sorgen.

Die Hypothese, den Klammergriff durch die Bildung einer parteiübergreifenden Koalition vernunftbegabter Kräfte zu sprengen, ist und bleibt genau das: eine Hypothese. Der "bipartisanism" – das Zwei-Parteien-System – ist in der US-Politik gleichsam eine heilige Kuh. Wenn man an einem Strang ziehen will – ok, dann kann man das bei einzelnen Gesetzesvorhaben ja tun. Eine systematische, formalisierte Zusammenarbeit – eine stabile Koalition – ist eigentlich unbekannt und eher eine Signatur europäischer Demokratien.

Es gibt wenig zu feiern

Doch dieses formale Procedere ist nur ein Aspekt der Sache. Die Person des neuen Speakers Kevin McCarthy wird für das Fortkommen der US-Politik in den kommenden Monaten und Jahren eine enorme Herausforderung sein. Der ehrgeizige Kalifornier, der in wenigen Tagen 58 Jahre alt wird, hat eigentlich wenig zu feiern – und noch weniger der US-Kongress.

Auch wenn jetzt die Republikaner im Abgeordnetenhaus zu Washington McCarthy jubelnd auf die Schulter klopfen und ihm manche Demokraten zumindest höflich applaudieren oder beglückwünschen: McCarthy – selbst kein Parade-Liberaler, sondern brav konservativer, oftmals opportunistisch agierender Trumpianer – ist bis zur Selbstverleugnung auf die Gruppe der Parteirechten zugegangen, hat Konzessionen gemacht, Versprechungen abgegeben. Er hat das Amt des Speakers korrumpiert und korrodiert, bevor er es überhaupt übernommen hat.

Als Marionette der Ultrarechten hat McCarthy jetzt null Handlungsspielraum. Jedes einzelne Gesetzesvorhaben – Budget, Ukrainehilfe, Wirtschaftsprogramme – ist davon abhängig, ob die extremsten der Extremen den Daumen nach oben halten. Oder nach unten.

Diese Gruppe radikaler Abgeordneter, die in manchen US-Medien sarkastisch als "Taliban 20" oder "Verrückte" bezeichnet werden, mit Argumenten beikommen zu wollen, ist offenkundig sinnlos und vergeblich: Sie haben ihre Verachtung für den Kongress und die USA in ihrer gegenwärtigen Form durch ihre tagelange Blockadehaltung schon ausreichend demonstriert und dokumentiert. Sie können sich jetzt zurücklehnen und sich auf den nächsten Showdown vorbereiten.

Das ist nicht nur für die USA eine beunruhigende innenpolitische Entwicklung, sondern muss auch den ausländischen Verbündeten – egal ob im wirtschaftlichen oder im militärischen Bereich – Anlass zu großer Sorge geben. (Gianluca Wallisch, 7.1.2023)