Frühe Olivenbauern auf Kreta (künstlerische Darstellung). Eine neue Studie bringt Licht in ihre Herkunft und ihre Familienstrukturen.

Nikola Nevenov

Die minoische Kultur auf Kreta gilt als die älteste Hochkultur Europas. Benannt nach dem mythischen König Minos existierte sie über ein Jahrtausend lang vor 3.450 bis 4.600 Jahren. Zwar ist das erste Werk, in dem von dieser bronzezeitlichen Kultur die Rede war, fast 200 Jahre alt, und auch Sir Arthur John Evans Grabungen in Knossos begannen rund um 1900. Dennoch geben die alten Minoer viele Rätsel auf, die noch der Lösung harren.

Das betrifft etwa auch die Linearschrift A (oft verkürzt als Linear A bezeichnet), die neben der kretischen Hieroglyphenschrift eines der beiden Schriftsysteme der minoischen Kultur Kretas war und den Hochkulturstatus mitbegründete. Sie wurde etwa vom 18. bis ins 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verwendet, konnte bis heute aber nur ansatzweise entziffert werden.

102 Genome aus der Antike

Unklar waren bis jetzt aber auch die Herkunft und die Familienstrukturen der Inselbewohner. Neues Licht in diese beiden Fragen bringt nun eine neue Untersuchung eines großen internationalen Teams um Eirini Skourtanioti (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig). Die Forschenden konnten für diese Studie die alte DNA von 102 antiken Individuen aus Kreta, vom griechischen Festland und den Ägäischen Inseln analysieren. Diese Menschen lebten vor rund 4.000 bis 3.500 Jahren in der Ägäis.

Erst jüngste methodische Fortschritte in der Produktion und Auswertung alter genetischer Datensätze haben es ermöglicht, auch in Regionen mit klimabedingt problematischer DNA-Erhaltung wie Griechenland umfangreiche Daten zu produzieren. Für eine mykenische Familie, die vor 3.500 Jahren auf einem Gehöft lebte, ist es dem Team um Skourtanioti sogar gelungen, die Verwandtschaft der Bewohner zu rekonstruieren – der erste Familienstammbaum, der bislang für den gesamten antiken Mittelmeerraum rein genetisch erstellt werden konnte.

Zuzug vom griechischen Festland

Die erste Erkenntnis der Studie, die im Fachmagazin "Nature Ecology & Evolution" publiziert wurde, kam nicht ganz überraschend: Die frühen Bauern auf Kreta hatten allem Anschein nach dieselbe Abstammung wie andere ägäische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Jungsteinzeit. Im Gegensatz dazu waren das Ende des Neolithikums und die darauffolgende frühe Bronzezeit, die vor rund 4.200 Jahren begann, durch einen "östlichen" Genfluss gekennzeichnet, der auf Kreta überwiegend anatolischen Ursprungs war.

Künstlerische Darstellung von frühen kretischen Bauern bei der Getreideernte.
Nikola Nevenov

Zudem konnte das Team von Archäologen und Genetikerinnen frühere Befunde für zusätzliche mittel- und osteuropäische Vorfahren auf dem griechischen Festland in der mittleren Bronzezeit bestätigen. Solche genetischen Signaturen tauchten dann vor rund 3.600 Jahren auch auf Kreta allmählich auf – in einer Zeit, als sich der Einfluss des Festlandes auf die Insel verstärkte.

Strenge Regel der Verwandtenheirat

Eher unerwartet kam jedoch ein weiterer Befund, der in gewisser Weise auch den Zuzug vom Festland bestätigt: Dort wie auch auf Kreta und den griechischen Inseln dazwischen dürfte es vor 4.000 Jahren allem Anschein nach üblich gewesen sein, die Cousine oder den Cousin ersten Grades zu heiraten. "Mehr als 1.000 alte Genome aus den verschiedensten Regionen der Welt sind inzwischen publiziert, aber so ein strenges System der Verwandtenheirat scheint es sonst nirgendwo in der Antike gegeben zu haben", sagt Eirini Skourtanioti, die Erstautorin der Studie. "Das kam für uns alle völlig überraschend und wirft viele Fragen auf."

Darstellung der Verwandtschaftsstrukturen einer bronzezeitlichen Familie auf Kreta. Eine Ehe zwischen Cousin und Cousine war üblich und vorgeschrieben.
Eva Skourtanioti

Wie diese besondere Heiratsregel zu erklären ist, kann das Forschungsteam nur mutmaßen. "Vielleicht wollte man auf diese Weise verhindern, dass das ererbte Ackerland immer weiter aufgeteilt wurde? Auf jeden Fall garantierte es eine gewisse Kontinuität der Familie an einem Ort, was etwa für den Anbau von Oliven und Wein eine wichtige Voraussetzung ist", vermutet Koautor Philipp Stockhammer (LMU München).

Auch in anderen Kulturen nicht unüblich

Solche Heiraten sind freilich auch in anderen Kulturen nicht unüblich, und selbst Charles Darwin war mit seiner Cousine ersten Grades verheiratet. Er machte sich allerdings Vorwürfe, diese Ehe eingegangen zu sein, da drei der zehn Kinder, die er mit Emma Wedgwood hatte, vor dem Erwachsenenalter starben, weshalb der Gelehrte vermutete, dass diese hohe Kindersterblichkeit mit möglichen Erbschäden aufgrund der nahen Verwandtschaft zu tun hatte. Diese Frage ist übrigens nach wie vor umstritten.

In manchen Gesellschaften ist Cousinenheirat bis heute vorgeschrieben, wie etwa auf der Insel Sumba, die zu Indonesien gehört. Da diese Regel nicht streng befolgt wird, ist aber auch hier für genetische Vielfalt gesorgt. Und wenn die Band Wanda in ihrem Hit "Bologna" gleich zu Beginn singt: "Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen, obwohl ich gern würde, aber ich trau mich nicht", dann mag dieser Vorbehalt persönlichen Gründen geschuldet sein. Rein rechtlich ist die Heirat von Cousin mit Cousine auch in Österreich nicht verboten. (Klaus Taschwer, 16.1.2023)