John Cale veröffentlicht ein neues Album. Dessen Titel ist zugleich die Diagnose: "Mercy", Gnade.

Foto: Madeline McManus

Die Ehrfurcht ist wie ein Vorhang. Eine dicht gewobene Hülle, bodenlang und schwer, entstanden vor einem über Jahrzehnte gewachsenen Gesamtwerk, das für mehr als eine Legendenbildung ausreichen würde – zumindest im Falle des John Cale.

Doch bewegt man den Vorhang zur Seite, bleibt im Falle seines neuen Albums Mercy nicht viel mehr übrig als eine vertane Chance. Ein Dutzend unentschlossener Einzelstücke, viele davon sechs, sieben Minuten lang, gespickt mit mehr oder weniger prominenten Gästen, deren Zutun ihnen hoffentlich mehr bringt, als es Cale gebracht hat, dem alten Meister.

"Horses" und "Hallelujah"

John Cale ist ein Gigant der Popkultur. Der heute 80-jährige Waliser gründete in den 1960ern mit Lou Reed die von Andy Warhol protegierte Band The Velvet Underground, ein Gamechanger im Rock, von dessen Einfluss bis heute gezehrt wird. Dazu produzierte er das erste Album der Stooges, Horses von Patti Smith, wegweisende Alben von Nico und das Debüt der Modern Lovers – Meilensteine der Musikgeschichte.

Und dann ist da sein eigenes Werk, das einen Künstler zeigt, der zwischen Abgrund und lichten Höhen wandelt, zwischen Proto-Punk und Avantgarde, zwischen derben Rockern und ergreifenden Balladen. Es ist die von John Cale zurechtgebogene Version von Leonard Cohens Hallelujah, vor der die Welt seit Jahrzehnten in – da ist sie wieder – Ehrfurcht vergeht.

Domino Recording Co.

Mit Liedern wie Half Past France, Close Watch oder Dying on the Vine schuf er ab den frühen 1970ern ähnliche, nur weniger bekannte Großtaten.

Mercy ist nun keine solche Großtat geworden. Cale lebt in Los Angeles und hat während der Pandemie 80 neue Songs geschrieben. Für die Aufnahmen hat er Gäste eingeladen, deren Arbeiten er schätzt. Etwa die Songwriterin Weyes Blood, die Elektronikerin Laurel Halo oder das Animal Collective.

Kokain und Squash

Mit ihnen schuf er schattseitige Etüden, und das ist wenig überraschend. Cale war nie der happy, aber auch nie der überempfindsame Typ. Sein Bariton besaß stets eine Portion hemdsärmelige Autorität. Wobei er seit den mittleren 1980ern seine sanfte Seite stärker pflegt. Damals zog er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf einer ausgewachsenen Kokainsucht – die Geburt seiner Tochter Eden veranlasste ihn, sein Leben dergestalt zu ändern, dass sein Kind mit einem präsenten und verlässlichen Vater aufwachsen würde.

Domino Recording Co.

Er wurde clean, nahm ab und begann mit der anstrengendsten Sportart, die er sich vorstellen konnte, mit Squash. Selbst heute noch wirkt er fit, im März geht er auf Europatournee, tritt in Wien und Wels auf.

Mercy schrammt an großen Balladen weit vorbei. Während Cale früher einprägsame Songs geschrieben hat, sind es heute bloß mäandernde Tracks, über die er singt. Es sind Nachtfahrten zu düsteren Themen unserer Zeit. Doch diese nehmen einen nicht mit, sie bleiben körperlos und blutleer.

Avantgardegelübde

Es sind nicht viel mehr als hundertfach gehörte Melancholieschablonen aus dem Laptop – so gefühlsecht, wie man sich in Silicon Valley ein schweres Herz eben vorstellt. Es wirkt, als versuchte Cale einem Avantgarde-Gelübde zu entsprechen, und er übersieht dabei, wie abgegriffen diese Sounds schon sind. Die Gäste ändern daran wenig, dackeln dem Alten bloß ergeben nach.

Siebeneinhalb Minuten lang steht man sich zu Story of Blood die Beine in den Bauch, über sechs bei dem wenigstens einen verlässlichen Rhythmus bietenden Not the End of the World, in dem Cales Stimme wie ein Walgesang im Hintergrund mit tiefsinnigen "Uuh Uuhs" zu hören ist. Das Lied würde auf keiner Esoterikmesse negativ auffallen.

Selbst die Londoner Band Fat White Family ordnet sich dem Klangnebel unter und verleugnet in The Legal Status of Ice fast acht Minuten lang ihr wahres Selbst. Mercy, Gnade, den Albumtitel, erfleht man schon nach wenigen Stücken. Dagegen war selbst der mit Autotune lähmende Vorgänger Shifty Adventures in Nookie Wood noch ein aufregenderes Werk – und der war schon zum Vergessen. (Karl Fluch, 19.1.2023)