"Doch schon heute, da die ganze Welt noch unter Schock steht, wissen wir eines mit Sicherheit: Eines Tages wird man diesen Mann vor Gericht stellen": Ljudmila Ulitzkaja.

Foto: Elkost

Den größten Teil meines Lebens habe ich in Moskau gewohnt, in sieben verschiedenen Wohnungen – von einem Sechzehn-Quadratmeter-Zimmer in einer Kommunalka, in der unsere Familie mit sieben weiteren zusammenlebte, bis zu einer eigenen Wohnung im sogenannten "Schriftstellerviertel" in einem attraktiven Moskauer Bezirk. Eine meiner ältesten Freundinnen, die zu Beginn der Sechzigerjahre aus der Emigration nach Russland zurückgekehrt war und zum ersten Mal in eine Kommunalka kam, nannte diese Art der Gemeinschaftswohnung beiläufig einmal "eine Erfahrung christlichen Lebens". Ich würde das nicht unbedingt bestätigen, aber dass das Leben in der Kommunalka eine Sozialisationserfahrung ist, eine Erfahrung von Zusammenleben auf engstem Raum, in dem die Distanz zwischen den Einzelnen so gering ist, dass ein Gefühl von Luftnot entsteht – daran erinnere ich mich gut.

Ich wohne in Moskau in derselben Gegend, in die vor über hundert Jahren mein Großvater mit seiner jungen Ehefrau gezogen war. Damals lag der Bezirk am Stadtrand, heute gehört er fast zum Zentrum. Ich hatte vor, bis an mein Lebensende an diesem Ort zu bleiben, aber ein Sprichwort sagt: Gott lächelt, wenn er von unseren Plänen hört.

Neuanfang in Berlin

Jetzt lebe ich mit meinem Mann Andrej in einer großen Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin, einer der ruhigsten, angenehmsten und wohnlichsten Städte Europas. Das Viertel, in dem unser Haus steht, liegt im ehemaligen Mauerstreifen, ist relativ neu und ziemlich geradlinig angelegt, nur die in der Nähe fließende Spree bietet eine gewisse Auflockerung dieser Geometrie.

Ein Zimmer unserer Wohnung hat sich Andrej als Atelier eingerichtet: Der Boden ist mit Papier ausgelegt, an den Wänden hängen Zeichnungen und Skizzen. Ich sitze mit meinem Computer wie immer in der Wohnküche. Wir versuchen, diese Wohnung zu unserem Zuhause zu machen, richten uns allmählich dort ein.

Wir haben uns einen Bücherschrank an geschafft und füllen ihn nach und nach. In einem An- und Verkauf haben wir einen großen bestickten Wandteppich gefunden, der nun in unserer Küche hängt und das Auge erfreut: Zwischen Granatäpfeln liegt eine schlafende orientalische Schönheit, um sie herum stehen gerührte Beobachter. Auch ich bin eine Beobachterin. Ich kann nicht schlafen, denn mein Schlaf ist gestört – der Tag beginnt mit den Nachrichten im Internet und endet am Abend damit.

Angst, Scham, Schmerz

Vor einigen Tagen kehrte ich von einer Reise auf die Balearen zurück, wo ich einen Literaturpreis bekommen hatte, und das wichtigste Resultat dieser Reise war womöglich nicht der Preis selbst, sondern das Gefühl, als ich in das Flugzeug nach Berlin stieg: Ich fliege "nach Hause". Daran muss ich mich noch gewöhnen.

Es herrscht ein irrsinniger Krieg. Millionen Menschen verlassen ihr Zuhause und gehen auf der Suche nach einem friedlichen Leben in andere Länder. Grenzen werden geschlossen. An die Grenzen strömen inzwischen wohl vor allem Männer, die der Mobilmachung entgehen wollen. Ich habe nur noch eine Hoffnung und einen Traum: Ich möchte das Ende dieses Kriegsirrsinns noch erleben und zurückkehren nach Moskau, in meine Wohnung, in die gewohnte und geliebte Welt, in der ich mich "am rechten Ort" fühle.

Kriegsbeginn

Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden weiterleben ohne Krieg, bis zu unserem Tod, der, worum wir stets beten, "ohne Schmerz, ohne Schande und in Frieden" eintreten möge. Aber nein, daraus scheint nichts zu werden. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Ereignisse dieses dramatischen Tages auswirken werden. Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle am heutigen Tag.

Schmerz – weil der Krieg Lebendiges trifft, das Gras und die Bäume, die Tiere und ihre Nachkommen, die Menschen und ihre Kinder. Angst – weil unser aller biologischer Instinkt auf die Erhaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Nachkommen gerichtet ist. Scham – weil offensichtlich ist, dass die Regierung unseres Landes die Verantwortung trägt für diese Situation, die großes Unglück über die gesamte Menschheit bringen könnte. Die Verantwortung für das, was heute geschieht, teilen wir alle, die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht vorherzusehen und zu verhindern vermochten. Wir müssen diesen minütlich eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch sämtliche Massenmedien auf unsere Bevölkerung einströmen.

Geschichtliche Parallelen

Die Geschichte bietet immer wieder interessante Parallelen. Vergleicht man bestimmte Vorgänge in Russland in den Jahren 1922 und 2022, drängt sich eine solche Parallele auf. 1922, ein paar Jahre nach der Revolution, verließen mehrere Schiffe die Häfen Sowjetrusslands und brachten Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller ins Ausland – die kulturelle Elite des Landes, die zur Emigration gezwungen war. Für diese Menschen war die Emigration der einzige Ausweg, denn zu der Zeit hatte die bolschewistische Regierung bereits eine Vielzahl von Adligen, Gelehrten, Priestern und Intellektuellen umgebracht. Sie alle waren hochgebildet und erkannten die neue, proletarische Macht nicht an. Berühmt wurde diese Ausweisungsaktion später als "Philosophendampfer".

Heute, hundert Jahre später, beobachten wir etwas Ähnliches. In den letzten Jahren hat schon ein großer Teil der russischen kulturellen Elite das Land verlassen. Doch nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine, den die russische Regierung verharmlosend als "militärische Operation" bezeichnet, hat sich diese Bewegung verändert und verstärkt.

"Die Erinnerung nicht vergessen" (aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links), Ljudmila Ulitzkaja, € 23,70 / 192 Seiten.

Flucht und Hilfsbereitschaft

Am Morgen des 11. März fuhr ich mit einem Petersburger Freund, einem Journalisten, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, zum zentralen Berliner Busbahnhof, um Flüchtlinge aus der Ukraine zu empfangen. Die Busse, die dort ankamen, waren anders als die "Philosophendampfer" von 1922. Die Menschen, die dort ausstiegen, waren von der Reise erschöpfte Frauen und Kinder. Keine Männer, weder alte noch junge. Die Alten wollen ihr Zuhause und ihren Besitz meist nicht verlassen, die Jungen kämpfen. Die Frauen fliehen mit ihren Kindern vor dem Krieg – weil ihr Haus zerbombt wurde oder weil sie es in den Luftschutzräumen nicht mehr aushalten. Eine Frau aus Donezk, mit der wir ins Gespräch kamen, war zu Besuch bei ihren Eltern in Cherson gewesen und wurde dort vom Krieg überrascht. Sie stieg in einen Bus und gelangte über eine verschlungene Route durch halb Osteuropa nach Berlin.

Die Berliner zeigten große Hilfsbereitschaft. Während die staatlichen Instanzen noch keine Unterkünfte organisiert hatten, nahmen Privatleute aus Berlin und anderen Städten ukrainische Frauen und Kinder bei sich auf. Neben dem Busbahnhof gab es einen provisorischen Sammelpunkt, an dem Freiwillige Verpflegung und Kleidung austeilten. Studenten, die bereits die ganze Nacht auf dem Busbahnhof verbracht hatten, blieben weiter dort, weil sie die verwirrten und erschöpften Menschen nicht sich selbst überlassen wollten. Imbissläden spendeten Essen, Apotheken des Viertels verschenkten Medikamente. Von Mitarbeitern staatlicher Stellen wurden kostenlose SIM-Karten verteilt, mit denen innerhalb Deutschlands und in die Ukraine telefoniert werden kann, Berliner Studentinnen und Studenten halfen bei der Installation.

Krieg und Emigration

Der Flüchtlingsstrom kam ebenso unerwartet wie der von der Kreml-Regierung improvisierte Krieg. Inzwischen organisiert das Land Berlin zusätzliche Unterkünfte in den ehemaligen Flughäfen Tempelhof und Tegel und in den Messehallen am Funkturm. Außerdem werden Busse bereitgestellt, die Ukrainerinnen und Ukrainer in andere Bundesländer bringen, die Benutzung der Deutschen Bahn und des öffentlichen Nahverkehrs ist für sie ebenfalls kostenlos. Und vor allem erhalten sie eine kostenlose medizinische Versorgung, was für die erschöpften und traumatisierten Menschen besonders wichtig ist. (…)

Wo ist dieser Wahnsinnige, auf dessen Befehl russische Truppen die ukrainische Grenze überschritten haben, friedliche Städte beschießen und bombardieren und Tausende Einwohner in Luftschutzräume treiben? In welchem komfortablen Bunker sitzt dieser Mann? Was kocht ihm sein berühmter Koch zum Abendessen? Wo ist seine Familie, wo sind seine Kinder, über die das Volk nichts weiß? Auch das ist ein Staatsgeheimnis. In vielen Jahren werden unsere Nachkommen in Büchern Beschreibungen dieser Tage lesen und darin Antworten auf alle diese Fragen finden.

Das jüngste Gericht

Doch schon heute, da die ganze Welt noch unter Schock steht, wissen wir eines mit Sicherheit: Eines Tages wird man diesen Mann vor Gericht stellen. Der Prozess gegen ihn wird in die Geschichte eingehen wie die Nürnberger Prozesse und das Kriegsverbrechertribunal von Den Haag. Ob er noch zu Lebzeiten des Verbrechers stattfinden wird oder erst nach seinem Tod, das wissen wir nicht.

Doch der Prozess ist ihm gewiss! Das Gericht steht bereit, es führt schon Protokoll und erwartet ihn. Fast möchte ich sagen: das Jüngste Gericht! (Ljudmila Ulitzkaja, 22.1.2023)